Mein größter Traum ist, meine siebenjährige Tochter aus der Ukraine zu retten.

Der ausgewachsene Nagellack ist ein trauriges Zeugnis von Inessas (39) letztem Besuch im ukrainischen Nagelstudio.

Bis vor drei Wochen lebte ich mit meinem Mann, zwei Kindern und meiner Mutter glücklich in Kiew. Unsere Wohnung befand sich im 16. Stock eines modernen Wohngebäudes. Am 6. März musste ich mit meinem Sohn Alex (16) auf die Flucht gehen, während meine Tochter Anna (7) bei meiner Mutter in der Ukraine blieb. Jetzt rufe ich sie dreimal am Tag an, manchmal unterhalten wir uns per Videotelefonie. Anna kann nicht sprechen, aber sie hört meine Stimme. Sie hat zerebrale Kinderlähmung und sitzt in einem speziellen Rollstuhl.

Aufgrund der Zerebralparese meiner Tochter hatten wir keinen gemeinsamen Ausweg.

Übrigens, welche Art von Dialog führen wir hier? Ist das ein formelles Interview oder ein informelles Gespräch? Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob ich das überhaupt kann … Verfolgen Sie die Nachrichten? Gestern war ich schockiert über den Terror in Butcha, das Töten von Kindern, es macht mir Angst. Momentan habe vor wirklich Allem Angst. Viele Frauen auf der Flucht sind traumatisiert, wir erschrecken beim kleinsten Geräusch.

Mein psychischer Zustand ist instabil und schlecht… trotzdem möchte ich Ihnen meine ganze Geschichte erzählen.

Als der Krieg am 24. Februar begann, blieben wir zehn Tage in unserer Stadt und versteckten uns im Keller. Es war eine sehr schwierige humanitäre Situation, besonders ab dem fünften Tag, als der Strom abgestellt wurde. Am meisten machte ich mir um die Gesundheit meiner Tochter Sorgen, da sie eine besondere Ernährung bspw. täglich warme Kost benötigt. Jeden Tag machte ich mich also auf den Weg zum Nachbarhaus, wo mich die Nachbarin ihre Küche benutzen ließ. Es gab kaum eine Auswahl an Lebensmitteln – ich kochte Gemüsesuppe, wir hatten Kartoffeln und Eier.

Es tut mir leid, nochmal fragen zu müssen, aber wer wird sich Ihre Audioaufnahme anhören? Ich bin mir nicht sicher, ob ich damit einverstanden bin. Ehrlich gesagt bin ich sehr nervös. Ich hatte Angst, bevor wir uns trafen, weil ich in einem fremden Land bin. Auch in Lübeck fühle ich mich nicht sicher. Die andauernde Kriegsgefahr lässt mich daran denken, noch weiter zu ziehen, vielleicht nach Kanada. Ich habe große Angst, persönliche Daten preiszugeben.

Ich möchte, dass Informationen vertraulich bleiben, vielleicht lesen die Russen Ihren Artikel?

Meine Hände zittern, aber ich erzähle weiter. Jeden Morgen gegen acht Uhr, bevor die Bombardierungen weitergingen, ging ich nach oben. Vom 16. Stock aus sah ich überall eingestürzte Gebäude, Feuer und Rauch. Als ich meinen Nachbarn von der Zerstörung Kiews erzählte, antworteten sie: „Inessa, bleib ruhig. Es wird bald aufhören!“ Aber ich blieb sehr besorgt, und in meinem Herzen wusste ich bereits, dass ich meine Familie würde evakuieren müssen. Am 5. März war ich Augenzeugin, als eine große Landmine in unserer unmittelbaren Nähe explodierte. Das ganze Haus bebte und ich schrie vor Angst: „Lasst uns unsere Kleider packen und sofort verschwinden!“ Aber mein Mann und meine Mutter weigerten sich.

Ich lache, um mich zu schützen, es ist meine Abwehrreaktion.

Noch am selben Tag gelang es meiner Mutter, mit Anna zu entkommen. Sie fuhren mit einen öffentlichen Bus in ein kleines Dorf, das 150 Kilometer außerhalb der Stadt liegt. Dort kamen sie in einem Haus unter, das einst meinen Großeltern gehörte. Inzwischen nahmen mein Sohn und ich ein Taxi zum Bahnhof. Wenige Tage später wurden die Straßen zerstört. Der Gedanke lässt mich erschaudern, weil es unsere letzte Chance war, mit Alex da rauszukommen. Mein Mann ist der Einzige, der bis heute in unserer Wohnung verblieb. Er hat Diabetes. Mein Herz fühlt so viel Schmerz, weil ihn, meine Eltern und eben meine Tochter zurücklassen musste.

Wenn ich an die 25 Stunden im Evakuierungszug denke, 
erinnere ich nur Dunkelheit, Kälte und Angst. 
Wenn ich an Anna denke, 
fühle ich nur Licht, Liebe und Hoffnung. 
Mein größter Traum ist es, meine Tochter aus der Ukraine herauszuholen. 
Wissen Sie, sie hat meine Augen und mein Lächeln.

Interview & Foto ©: Sandy Bossier-Steuerwald