
Dies ist die Geschichte von Farnaz Moradi (24), einer jungen Iranerin, die auf der Flucht vor der russischen Invasion in der Ukraine 2022 auch mit Rassismus zu kämpfen hatte.
Als ich 18 war, arbeitete ich bereits als Designerin im Iran, aber mein eigentliches Interesse galt dem Ingenieurwesen. Außerdem verspürte ich den Drang, andere Kulturen kennen zu lernen. Da die Universität in Kiew einen guten Ruf hatte und das Leben in der Ukraine erschwinglich ist, war die Entscheidung gefallen: Ich verließ den Iran, um im Ausland Medizintechnik zu studieren.
Ich bin das einzige Mädchen in der Medizintechnikklasse, aber ich sehe kein Problem mit dem Geschlecht. Als Iranerin bin ich eine Minderheit, aber das ist für niemanden ein Problem. Für mich sind alle Menschen gleich.
Im ersten Jahr in Kiew verbrachte ich viel Zeit damit, die russische Sprache zu lernen, auch wenn die meisten meiner Kurse auf Englisch stattfinden. In den letzten fünf Jahren habe ich in einem Studentenwohnheim der Universität gewohnt. Ich hatte zwei Mitbewohner*innen, die eine aus Japan, der andere aus Ghana, und viele internationale Freunde. Meine Eltern aus dem Iran haben mich immer unterstützt, außerdem habe ich selbst etwas Geld verdient, indem ich für einen Lieferdienst gearbeitet habe, der Lebensmittel in Kiew ausliefert.
Bis zum Krieg wusste ich nicht einmal, dass es so etwas wie einen Luftschutzkeller gibt.
Es war der 24. Februar 2022 um sechs Uhr dreißig am morgen, als ich von jemandem geweckt wurde, der an die Tür klopfte und uns aufforderte, Dokumente, etwas zu essen und zu trinken mitzunehmen und in einen Schutzraum zu gehen. Meine Mitbewohner und ich packten ahnungslos unsere Sachen und gingen die Treppe hinunter. In der Unterkunft war es kalt und man konnte kaum atmen. So viele Menschen, weinende Kinder, keine Möglichkeit zu gehen und Schwierigkeiten, die Toilette zu benutzen. Es gab Matratzen auf dem Boden, und wir hatten unsere Bettwäsche mitgebracht, aber da die Menschen in Panik und Angst waren, konnte ich nicht gut schlafen.
Zehn Tage später war noch immer kein Ende des Krieges in Sicht und die Lage wurde ernster. Zu diesem Zeitpunkt waren die meisten meiner internationalen Freunde irgendwie in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Ich blieb mit den beiden verbliebenen Freunden aus meinem Wohnheim, Himari und Kwame, zusammen und wir machten uns zu Fuß auf den Weg zum Bahnhof. Wir mussten acht Stunden auf dem Bahnsteig stehend auf einen Zug warten. Als der Zug endlich ankam, wurden wir aufgefordert, die Ukrainer zuerst einsteigen zu lassen. Die Leute sagten: „Zuerst ukrainische Kinder, ukrainische Frauen und ukrainische Männer. Nur wenn noch ein Platz frei ist, können auch Sie einsteigen.“
Wir sahen, wie Schwarze zurückblieben, als der Zug nach Lemberg losfuhr.
Sie müssen wissen, dass mein Freund Kwame schwarz ist und es waren noch andere schwarze Studenten in der Nähe. Die Ukrainer haben offensichtlich schon beim Anblick erkannt, dass wir Ausländer sind. Am Anfang fragte das Zugpersonal nur uns, ob wir Zugfahrkarten hätten! Da es an diesen Tagen nirgendwo Fahrkarten zu kaufen gab, könnte man das wirklich als Rassismus bezeichnen. Ich bin aber nicht böse, ich versuche, die Leute zu verstehen. Ich denke, das ist kein ungewöhnliches Verhalten in einer Situation von Stress und Angst. Die Menschen wollten ihr Leben und ihre Kinder in Sicherheit bringen. Wir wurden Zeuge, wie schwarze Menschen auf dem Bahnsteig zurückblieben, als der Zug nach Lemberg aus dem Bahnhof rollte, aber meine Freunde und ich konnten in letzter Sekunde einsteigen.
Wir kamen nach Lemberg, wo wir für eine Nacht in einem Hostel schliefen, aber es fühlte sich noch immer nicht sicher an. Also nahmen wir ein überteuertes Taxi zur polnischen Grenze, wo wir uns in der Schlange anstellten. Es war tagsüber, als wir warteten, und es war eiskalt. Ich erinnere mich, dass es an diesem Tag schneite. Wir mussten nur neun Stunden in der Schlange anstehen, insofern war es nicht allzu schlimm. Als wir in der ganz vorne ankamen, verweigerten die Zöllner jedoch jungen Männern den Grenzübertritt. Aber Himari und Kwame sind ein Liebespaar, und vermutlich wurden sie deshalb – nebst der Tatsache, dass sie Ausländer*innen sind – durch gewunken.
Wir mussten nur neun Stunden anstehen, insofern war es nicht allzu schlimm.
Direkt neben mir stand ein Junge, vielleicht 19 Jahre alt, ganz allein. Er war kurz davor zu weinen, weil er Angst hatte, nicht passieren zu können. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen, kannte weder seinen Namen noch seine Herkunft, aber er war kein Ukrainer. Er sah mich sehr verängstigt an und fragte verzweifelt: „Hey, kannst du ihnen sagen, dass wir zusammengehören?“ Und ich sagte intuitiv, ohne nachzudenken: „Okay!“ Wir mussten uns nicht an den Händen halten oder so, aber „ein Paar zu sein“ schien uns aussichtsreicher und so wir überquerten die Grenze zu Fuß. Gemeinsam einsam.
Sie fragen sich, warum ich mich entschieden habe, ein paar Monate in Österreich zu bleiben, anstatt jetzt nach Hause zu gehen? Nun, sobald ich in den Iran zurückkehre, wird es sehr schwierig sein, ein weiteres Visum für ein europäisches Land zu bekommen. Also warte ich und versuche, meine Online-Seminare von hier aus zu bestreiten. Wenn alles klappt, werde ich in einem Jahr meinen Bachelor-Abschluss machen – vielleicht im Exil in Österreich, vielleicht in der Ukraine, sofern der Krieg bis dahin vorbei ist.
Interview: Sandy Bossier-Steuerwald, Foto © privat