Karriere, Corona, Krieg – Wann ist der richtige Zeitpunkt, eine Familie zu gründen?

Anastasiia Kulykovska (29) wünscht sich ein erfülltes Leben mit Familie in der Ukraine, doch der Krieg machte einen Strich durch die Rechnung.

In erster Linie ist Alex mein bester Freund, der alles über mich weiß. An zweiter Stelle ist er mein Ehemann. Ich habe jeden Tag für ihn gekocht, am liebsten habe ich ihm ein schönes Frühstück zubereitet. Alex liebt „syrnyky„, ukrainische Pfannkuchen mit Hüttenkäse gefüllt, und ich liebe es, mich mit ihm beim Kaffee zu unterhalten – etwas, das ich jetzt schmerzlich vermisse. Zum Valentinstag 2022 sind wir in ein neues Restaurant in Kiew gegangen, libysche Küche auf hohem Niveau. Wir bestellten im Grunde alles, was auf der Speisekarte stand, und nahmen uns viel mehr Zeit als sonst.

Innerhalb von nur vier Wochen, wurde dann die Welt auf den Kopf gestellt.

Ich habe Alex vor sechs Jahren auf der Hochzeit meines Freundes kennen gelernt. Wir verabredeten uns, verliebten uns und begannen, uns ein schönes Leben in Kiew aufzubauen. Wir besaßen eine Wohnung, ein Auto und hatten gute Jobs: Alex war erfolgreicher Anwalt und ich arbeitete als Schauspielerin am „Golden Gates“ Theater. Von 2017 bis 2019 bekam ich die Möglichkeit, meinen Master an einer privaten Hochschule in München zu machen und wir trennten uns vorübergehend. Während ich ukrainische Geschichte und Psychologie auf Lehramt studierte, lernte ich Deutsch und war überrascht, wie hilfreich die Sprachkenntnisse sein können… Im Jahr 2021 machte mir Alex einen Heiratsantrag. Er hatte es sich ganz romantisch vorgestellt, sogar an den Eiffelturm gedacht… Aber wegen Corona war das nicht möglich. Als ich am Samstagabend, dem 13. Februar 2021, von der Arbeit nach Hause kam, wunderte ich mich, warum er ein formelles Hemd und keine sportliche Kleidung trug. Er sah mich verschwörerisch an und ließ mich die Wohnung nach einem Schlüssel und einem passenden Safe durchsuchen. Darin fand ich eine Menge kleiner Zettel:

Ich habe jeden einzelnen gelesen: „Hundert Gründe, warum ich dich liebe!“

Wir haben im Juni 2021 in Kiew geheiratet. Es war keine typisch ukrainische Hochzeit – kein großer Tisch, der mit Essen überquillt, kein Moderator, keine Spiele, nichts…. Aufgrund der Corona Vorschriften hatten wir nur eine kleine standesamtliche Trauung mit meiner Familie und einigen engen Freunden, einschließlich eines Fotoshootings. Wenigstens konnten wir unsere Flitterwochen in der Dominikanischen Republik verbringen, weil die Infektionsrate dort seinerzeit niedrig war. Es war ein wunderbarer Urlaub nach all dem Jobstress und der Erschöpfung von Corona – vielleicht ist es sogar die letzte gute Erinnerung, die ich bis heute habe.

Am Morgen des Kriegsausbruchs riefen mehrere Freunde aus dem Ausland an und boten an, mich aus der Ukraine zu holen, aber ich wollte meinen Mann nicht zurücklassen. Fünf Tage später schlug eine Rakete in den Fernsehmast ein, der nur 30 Meter von meiner Wohnung entfernt lag. Ich war gerade zu Hause und zog mich um (da es im Bunker sehr staubig war), und die Schallwelle schleuderte mich gegen die Wand meiner Wohnung. Dennoch war Flucht für mich noch keine Option.

Ich kann Ihnen sagen, dass die ersten Tage des Krieges die schrecklichsten sind, weil man unter Schock steht. Man versteht einfach nicht, was passiert, denn vor ein paar Tagen hatte man noch ein normales Leben. Plötzlich hat man keine Möglichkeit mehr, zu duschen oder sich die Hände zu waschen. Man kann nicht ruhen, hat kein Bett. Man trägt alle warmen Sachen, die man besitzen, und trotzdem friert man. Es gibt nichts vernünftiges zu Essen, nicht einmal Wasser steht ausreichend zur Verfügung. Ich hatte Probleme mit meinem Magen, weil ich nichts essen konnte. Man schläft ein und hofft: „Das ist nur ein Traum!“ Dann wacht man auf und stellt fest: „Das ist es nicht. Es geht weiter und weiter!“

Tag ein, Tag aus, immer das Gleiche: Immer mehr Raketen, nichts Gutes passiert.

Wir verfolgten die politischen Ereignisse täglich und hofften auf ein baldiges Ende des Krieges. Ich war bereit, noch zehn Tage ohne Essen auszukommen und nicht zu duschen, solange es dann vorbei sein würde. Am Morgen des 21. Tages hörten wir eine schreckliche Explosion. Die Russen waren dabei, eine nahe gelegene Militäranlage zu zerstören. Plötzlich spürte ich diese Leere in mir und musste mir erschrocken eingestehen: „Es ist genug, ich kann nicht mehr.“ Wir verstanden, dass ein Ende des Krieges nicht absehbar war und ich einfach keine Kraft mehr hatte. Mein Mann sagte:

„Denk nicht an mich, du musst jetzt an dich denken.“

Alex blieb also zurück in Kiew, ebenso wie meine Mutter und mein Stiefvater, meine Großmutter und mein Onkel. Mittlerweile hat er sogar mit seinen beiden Brüdern gebrochen, die, wie der Rest seiner Familie, in Russland leben. Aufgrund der Spannungen zwischen unseren Ländern gibt es unzählige solcher Familientragödien, die zum Teil schon vor Jahren begonnen haben und sich nun im Krieg zuspitzen.

Alex sagte zu seinem Bruder in Moskau: „Wage es nicht, mich anzurufen. Niemals wieder. Hörst du?!“

Natürlich würde ich selbst gerne Kinder haben. Mein Mann und ich hatten letztes Jahr über die Familienplanung gesprochen und beschlossen, uns auf unsere Karrieren zu konzentrieren, uns noch ein, zwei Jahre Zeit zu lassen. Die Idealvorstellung wäre, eine Familie in der Ukraine zu gründen, aber derzeit fühle ich mich psychisch garnicht in der Lage, Kinder zu bekommen.

Um Mutter zu sein, braucht man doch eine sichere Umgebung und ein schönes Zuhause, in dem man sich wohlfühlen kann. Ich bewundere Frauen, die trotz des Krieges schwanger werden. Für mich ist das schwer vorstellbar und ich denke, dass es nicht die richtige Zeit für Kinder ist. Zumal Alex und ich physisch getrennt sind, ohne zu wissen, wie lange dieser Krieg dauern und unser Leben bestimmen wird. Zudem habe ich Angst, dass er vom Militär eingezogen wird…

Ich vermisse Alex sehr. Wir sprechen uns täglich per Videotelefonie, und dennoch stelle ich schon jetzt kleine Veränderungen fest: Wir sind nicht mehr dieselben, die wir vor dem Krieg waren. Ich habe ein Leben hier in München, er hat sein Leben in Kiew und mit jedem Tag verändern wir uns ein bisschen. Es ist enorm wichtig, den Kontakt zu halten, sonst könnte es eines Tages passieren, dass unsere Lebenswege auseinander driften – und das ist es, wovor ich am meisten Angst habe -, dass dieser kurze Moment der Trennung unbemerkt bleiben könnte.

Interview: Sandy Bossier-Steuerwald; Foto oben: © Privat & Hochzeitsfoto © Anna Gorbenko


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