
„Im litauischen Exil kann ich weiterhin das tun, was ich am besten kann: Schauspielern.“ Kateryna Aleksieieva (rechts) auf der Bühne mit Yelyzaveta Tsilykauf in Karo spirale, ein Stück über den Krieg in der Ukraine.
Auch wenn ich jetzt glücklich wirke, gibt es eine aussagekräftige Situation, die meine ambivalente Gefühle im Exil verdeutlicht: Ich hatte beschlossen, an einem Schauspiel- Workshop in Litauen teilzunehmen und machte mich im Zug auf den Weg dorthin. Ich hatte erfahren, dass Zugfahrten für geflohene Menschen aus der Ukraine kostenlos waren und reiste lediglich mit meinem Pass. Als nun aber der Schaffner kam und nach meinem Fahrschein fragte, fühlte ich mich plötzlich wie ein Bettler und brach in Tränen aus. Es war schrecklich, irgendwie skurril und ich versuchte mich zu beruhigen: „Schon okay, Kate… du bist ohne eigenes Verschulden in dieser Situation… die litauische Regierung will Dir und anderen Ukrainer*Innen auf der Flucht helfen.“ Aber ich fühlte mich so armselig, dass ich einfach nicht mehr aufhören konnte, zu weinen.
Natürlich hätte ich das Zugticket auch bezahlen können, aber zu der Zeit hatte ich noch keinen Job und dachte, ich spare das Geld lieber für das Mittagessen.
Seit ich Teenager war, wollte ich Schauspielerin werden. Mit 16 wurde mir eine Rolle in einem Theater in meiner Heimatstadt Mykolaiv im Süden der Ukraine angeboten, aber meine Mutter bestand auf eine richtige Ausbildung. Während ich bereits am Theater arbeitete, worauf mein Fokus lag, studierte ich, sozusagen nebenbei, noch auf Lehramt…
Bis Februar 2022 hatte ich ein Leben auf der Überholspur in Kiew, Ukraine.
Bis Februar dieses Jahres war ich als Lehrkraft an der Staatlichen Universität Kiew tätig und unterrichtete „Stage Speech“. Ich lebe seit sechs Jahren in der Stadt und teile seit 2021 eine Wohnung mit meiner Kollegin und Freundin Karina. Wir beide haben ein rastloses Leben geführt: Wir arbeiteten sechs Tage die Woche, an meinem freien Tag – montags – ging ich meinen Zweitjob an der Universität nach. Eigentlich waren wir die ganze Zeit am arbeiten und mit meiner Karriere ging es bergauf: Ich stand kurz vor dem Durchbruch, denn ich hatte ein Angebot bekommen, von dem ich schon immer geträumt hatte: Die Hauptrolle in einer TV-Soap für 2022.
Als die Leute anfingen, über einen möglichen Krieg zu reden, habe ich ihnen keine Beachtung geschenkt.
Für den 25. Februar war eine Theaterpremiere geplant und die Tage davor haben wir quasi im Theater gelebt – von 10 bis 23 Uhr. Wir haben an nichts anderes gedacht als an Proben, Kostüme und Make-up, an Haare, Stil und Musik. Ich war voll und ganz auf die bevorstehende Premiere konzentriert. Als ich an diesem Morgen um fünf Uhr morgens durch ein seltsames Geräusch am Fenster aufwachte, spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Menschen aus verschiedenen Regionen der Ukraine berichteten von Bombenanschlägen, und meine Mutter bestätigte die Nachrichten aus erster Hand. Sie schrieb mir per Telegram aus Mykolaiv: „Kate, es ist ein Albtraum.“
Um drei Uhr nachmittags, als die Sirene zum ersten Mal ertönte, erklärte mir Karina, was dieses mir unbekannte Geräusch war – sie kommt ursprünglich aus der Region Donezk und war daher an Sirenen gewöhnt. Wissen Sie, die Sirenen klingen sehr seltsam, nicht wie eine Glocke… eher wie ein Messer im Herzen.
Ich habe naiv geglaubt, dass der Krieg innerhalb von wenigen Stunden aufhören wird.
Gottseidank war Karina bei mir. Wir schliefen in unserem Wohnungsflur, gemeinsam auf einer Matratze und angekleidet – jederzeit bereit, aufzubrechen. Aber wohin sollten wir gehen, wenn überhaupt irgendwohin? In unseren Keller oder einen Luftschutzbunker? Den „grünen Korridor“ nehmen? Wir hatten einfach keine Ahnung, wohin. Kiew zu verlassen, diese Entscheidung final zu treffen, erwies sich dabei als Hauptproblem.
Das Schwierigste war, der Ukraine den Rücken zu kehren. Wo wir anschließend landen würden - ob in Polen, Litauen oder Deutschland - das spielte eigentlich keine Rolle.
Schließlich verharrten wir die ersten zwei Kriegswochen in der Wohnung. Jeder Tag war anders: Mal war ich bereit zu gehen, aber Karina war es nicht. Am nächsten Tag sagte sie: „Okay, lass uns jetzt fliehen!“, dann wiederum zögerte ich: „Oh nein, Karina, vielleicht ist heute nicht der richtige Tag…“ Es war ein auf und ab der Gefühle, in einem Moment ging es uns gut, im nächsten garnicht mehr. Wir haben viel geredet und die Nachrichten auf dem Handy verfolgt. Um uns abzulenken, putzen wir die Wohnung. Ich bat Karina, die eine großartige Köchin ist, heiße Suppen für uns zu kochen, denn es war ein sehr strenger Winter. Früher hatte ich immer auswärts gegessen und nun kochten wir gemeinsam, nach dem Motto
Lenken wir uns vom Krieg ab und kochen Borschtsch!
Wir steckten gemeinsam in diesem Schlamassel und hatten große Angst. Ich war der festen Überzeugung, dass wir, sofern wir irgendwann die Wohnung verließen, gemeinsam gehen mussten. Niemals hätte ich Karina zurück gelassen. Eines Nachts hörte ich ein seltsames Geräusch im Badezimmer, und ich begann verstört zu weinen. Ich hatte Angst, dass jemand in die Wohnung eingebrochen war, vielleicht ein Fremder, gar ein Soldat? Es dauerte ein paar Minuten, bis ich realisierte, dass es nur eine defekte Toilettenspülung im Bad war! In diesem Moment wurde mir klar, dass ich gehen musste, dass wir gehen mussten.
Schließlich verließen wir unsere Wohnung und Kiew am 8. März 2022.
Wir flohen gemeinsam nach Chmel’nyts’kyi – 200 km von Kiew entfernt -, um bei Freunden von Freunden zu wohnen. Dann trennten sich unsere Wege. Während ich jetzt noch in Litauen bin, ist Karina bereits Mitte April in unsere Wohnung in Kiew zurückgekehrt. Sie sagt: „Kate, meine Eltern sind in Donezk, wo soll ich hin? Ich will nirgendwo anders leben als hier!“ Und ich versprach: „Karina, ich werde dich besuchen, und dann musst du wieder Borschtsch für uns kochen, ja?!“ Und ich bat sie, mir über Facetime mein Zimmer zu zeigen, meine Parfums, meine Cremes, meine Kleidung, ich war erleichtert zu sehen, dass alles noch an seinem gewohnten Platz war… Dann gingen die Sirenen los, aber Kate reagierte überhaupt nicht. Stattdessen sagte sie: „Kate, ich bin müde. Wenn eine Bombe auf unsere Wohnung fällt, wird sie auf unsere Wohnung fallen. Dann ist es eben so.“
Als ich selbst Ende Juni 2022 zu einem sechstägigen Besuch nach Kiew zurückkehrte, hatte ich Angst, die Sirenen wieder zu hören: Was würde ich fühlen? Wie würde ich reagieren? In dieser Zeit waren bereits viele Ukrainer*Innen zurückgekehrt, und die Stadt schien sich – zumindest in Teilen- wieder zu beleben. Ich nahm ein Taxi, um meine Mutter und Schwester zu besuchen und war der Fahrer war sehr besorgt um mein Wohlergehen. Er fragte: „Geht es Ihnen wirklich gut?“ Ich saß auf dem Rücksitz, mit vielen Geschenke auf meinem Schoß und nickte. Er manövrierte den Wagen durch die Straßen des vom Krieg zerrütteten Kiews, dann heulten die Sirenen plötzlich los. „Alles ist in Ordnung, keine Sorge!“ beruhigte er mich und setzte die Fahrt einfach fort…
Interview: Sandy Bossier-Steuerwald. Foto © Žydrūnas Budzinauskas