Nataliia Kovalenko (42) ist seit ihrer Flucht im März 2022 ehrenamtlich bei der Berliner Stadtmission tätig, u.A. als Projektkoordinatorin des „Café Ukraine am Alexanderplatz“.
Als Anastasiia und ich am 24. Februar 2022 Mariopul verließen, sind wir ohne Verabschiedung von Alexander, meinem Mann und ihrem Vater, gegangen. Am 4. März kamen wir in Deutschland an und am Folgetag brach die Verbindung zu ihm ab. Niemand konnte kommunizieren, es gab kein Telefon, kein Internet, nichts. Grundsätzlich bin ich ein optimistischer Mensch und ich verbot mir, in Panik zu verfallen. Ich habe für Alexander gebetet und mir dauernd vorgestellt, wie ich ihn mit einem Schutzmantel umhülle. Ich schlief in seinem T-Shirt, welches so gut nach ihm roch. Ich legte alle Kraft in meine Gedanken und glaubte, meinen Mann so beschützen zu können.
Wir haben uns nicht verabschiedet.
Alexander und ich haben uns 1998 an der Universität kennengelernt, 2002 heirateten wir und 2005 wurde unsere Tochter Anastasiia geboren. Ich komme ursprünglich aus Saporischschja. 2019 zogen wir aufgrund der Arbeit nach Mariopul, mein Mann hatte eine Leitungsfunktion in der Logistikbranche angenommen. Ich war Managerin und Trainerin für Businessprozesse und -spiele und sehr unabhängig. Meine persönliche Entwicklung war mit wichtig und ich trug mich mit der Idee, eines Tages eine eigene Schule im Weiterbildungsbereich zu eröffnen. Anastasiia lebte bei uns, sie war ja ein Teenager und ging noch zur Schule. In ihrer Freizeit spielte sie Theater.
Ich war sehr glücklich. Ich hatte klare Ziele im Leben – Nun ist alles unterbrochen.
Wenngleich wenn wir viel arbeiteten, verbrachten wir unsere Wochenenden gemeinsam als Familie: am Wochenende spielten wir Tennis oder fuhren in die Wälder und ans Meer. Wir liebten das kulturelle Angebot Mariopul’s, es gab in so viel zu entdecken – es war eine sich schnell entwickelnde, schöne Stadt. Man konnte durch das Zentrum oder an den Ufern des Asowschen Meeres entlang spazieren. Ich liebe das Meer! Zwei Mal im Jahr sind wir in den Urlaub gefahren, im Juni `21 waren wir in der Türkei, im Dezember noch in Ägypten…
Hätten wir nur einen Tag gezögert, wären wir nicht mehr aus Mariopul rausgekommen.
Die Idee war, bei meinen Eltern in Saporischschja Unterschlupf zu finden, im Normalfall etwa zweieinhalb Autostunden von Mariopul entfernt. In den Straßen herrschte jedoch Panik und mein Citroën hatte kaum mehr Benzin. Die Tankstellen akzeptierten nur noch Kartenzahlung und ich hatte kein Bargeld an mir. So bettelten meine Tochter und ich Fremde an – mit Erfolg, wir bekamen etwas Geld, nicht viel, aber für 15 Liter reichte es. Kurz vor der Stadtgrenze fiel dann auch noch die komplette Elektronik meines Autos aus…
Letztlich habe ich die geglückte Flucht aus Mariopul auch Freunden zu verdanken: Sie fuhren in einem Auto vor, ich folgte im Citroën. Ohne Elektronik wusste ich nicht, wie schnell wir fuhren, wie viel Benzin blieb und die Lüftung war ausgefallen. Wir hatten beschlagene Scheiben und mussten mit geöffneten Fenstern fahren. Es war so kalt… Ich war total angespannt. Ich bin mit einem Tunnelblick hinter unserem Freund hergefahren, in größter Angst, dass wir stehen bleiben könnten. Was mich aber am meisten umgehauen hat, war der Hund: Sie hat einfach alles ruhig über sich ergehen lassen. Sie hat um nichts gebeten, sie hat still im Auto gelegen, niemand sprach mit ihr. Ich war so konzentriert, ich konnte nicht sprechen.
Mein Kopf war leer wie eine Wüste. Es war die schwerste Autofahrt meines Lebens.
Als wir schließlich in meinem Elternhaus ankamen, war es schon dunkel, aber vergleichsweise ruhig. Mein Vater hatte Essensvorräte besorgt und im Keller die Betten vorbereitet. Wir blieben eine Woche. Mit jedem Ertönen der Sirenen gingen wir in den Keller. Es war eine Woche Stillstand. Meine langjährige Freundin Diana suchte mit ihrer Sohn Bogdan bei uns mit Eltern Schutz. Diana hatte Ikonen dabei und legte die orthodoxen Heiligenbilder im Halbkreis um sich. Es war ein seltsamer Zustand. Der Fernseher lief die ganze Zeit und zeigte ausschließlich schreckliche Bilder. Es war ein widerwertiger Zustand, ein weicher, hilfloser Zustand. Du bist handlungsunfähig, du fühlst dich, wie in Gelee.
Unsere Nachbarn würden uns ausbuddeln, falls wir verschütt gehen.
Dann begonnen Evakuierungszüge aus Saporischschja zu fahren. Der Gedanke 24 Stunden durch die Ukraine zu reisen war beängstigend, aber noch größer war die Angst um unsere Kinder. So wachte ich eines Morgens auf und sagte entschlossen: „Wir fahren jetzt!“ Der Hund blieb bei meinen Eltern, die selbst nie geflohen wären, ein kategorisches: „Nein!“. Meine Freundin und ich entschieden uns den Zug zu nehmen, wir wollten einfach zusammenbleiben, um uns gegenseitig zu unterstützen. Das Ziel war dabei völlig egal, denn ich war noch nie in Europa.
Letztlich waren wir zu Elft in einem Vier-Personen-Abteil des Evakuierungszuges.
So kamen wir mit unseren Töchtern am Bahnhof an, wo völliges Chaos herrschte. Die Leute drängelten, im Zug gab es nicht genug Plätze. Sie haben panisch an den Türen gehämmert, geschrien, geschimpft: „Öffnet das Abteil!“ Dann waren wir zu Elft in einem Vier-Personen-Abteil und die Tochter meiner Freundin weinte: „Ich will hier raus!“ Als der Zug endlich los rollte beruhigten sich alle… Die Menschen lagen auf dem Korridor mit kleinen Kindern, das meiste waren ja Frauen mit Kindern. Wir kamen am Folgetag gegen 15:30 Uhr in Lemberg an. Dort warteten wir acht Stunden auf den nächsten Zug, um nach 14 weiteren Stunden Fahrt zur polnischen Grenze zu gelangen… Als wir uns in Sicherheit wussten, sah ich regelrecht, wie meinen Kindern ein Stein vom Herzen fiel. Sie konnten plötzlich wieder lächeln.
Ich habe verstanden,
dass es egal ist, wo man lebt –
das Wichtigste ist,
sich an einem sicheren Ort aufzuhalten.
Nach zehn Tagen der Ungewissheit, hat mich mein Mann telefonisch erreichen können. Es war der 15. März – unser Jahrestag. Alexander hatte Mariopul in seinem Auto verlassen, was zwar von Schüssen zersiebt war, aber noch lief. Er hatte weitere Menschen mitgenommen, aber ich weiß nicht, wie sie rauskamen – er möchte nicht darüber reden, mit niemandem, nicht mal mir. Wir haben uns seit Kriegsausbruch zwei Mal in Lutz/ nordwestliche Ukraine getroffen, dort ist es friedlich und Alexander hat Arbeit gefunden.
Mein Mann riecht immer noch vertraut – nach Heimat und Ukraine. Das Schwierigste an unseren Treffen ist, diese eigentümliche Situation zu begreifen. Das Gehirn spielt einem einen Streich: In dem Moment des Zusammenseins fühlt es sich an, als sei alles in Ordnung, aber es ist ein Trugschluss, denn wir müssen uns doch wieder trennen. Es ist eine schöne Geschichte, es gibt nur noch kein Happy End.
Nataliia Kovalenko (42) arbeitet seit März 2022 ehrenamtliche bei der Berliner Stadtmission. Sie engagiert sich in unterschiedlichen Bereichen für ukrainische Geflüchtete und ist seit April 2022 Projektkoordinatorin des “Café Ukraine am Alexanderplatz” mit mittlerweile über 40 durchgeführten Veranstaltungen. Darüber hinaus ist sie als Rednerin und in diversen Workshops involviert und engagierte sich im vergangenen Jahr für etliche Projekten wie bspw. Phineo Startups, GUTEmission.
Aktuelle Informationen zum Berliner “Café Ukraine” gibt’s fortlaufend auf Instagram.
Interview & Blogfoto : © Sandy Bossier-Steuerwald; Foto unten: © privat