Elf Tage auf der Flucht verdeutlichten Anzhelika N. (46), wie verbunden sie mit ihren Kindern ist.
Ich bin nie um die Welt gereist. Ich hatte immer Angst, mein “Nest” zu verlassen. Dabei ist man zu Hause in seiner vertrauten Umgebung, in vielerlei Hinsicht eingeschränkt. Vielleicht liegt es in der Natur des Menschen, sich vor dem Unbekannten zu fürchten, vielleicht lag es auch an meinen eigenen, mangelnden Fremdsprachenkenntnissen – so oder so schien mir das Fremde immer gefährlich. Als wir 2022 die Ukraine verließen, eröffnete sich mir die Welt auf eine neue, positive Weise und ganz anders als ich sie mir vorgestellt hatte: Die Welt ist ein glücklicher Ort, und die Menschen um mich herum sind überhaupt nicht so fremd oder beängstigend, wie ich immer dachte. Man muss losziehen und auf sie zugehen.
Als wir die Ukraine 2022 verließen, eröffnete sich mir die Welt auf eine neue, positive Weise.
Als ich 1975 in Lettland auf die Welt kam, war das Land noch Teil der Sowjetunion. Ich erinnere mich noch gut an Trainingsflüge von Kampfjets, da muss ich etwa vier Jahre alt gewesen sein. Es war die zeit des kalten Krieges. Im Kindergarten wurden wir auf “den Ernstfall” vorbereitet und mussten uns regelmäßig in den Luftschutzkellern verstecken, zur Probe. Auch Militärfeiern zum Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs haben mich als Kind sehr beeindruckt – vielleicht, weil man als junger Mensch so viel Fantasie hat. Auf jeden Fall wurde ich von realistischen Alpträumen vom Krieg heimgesucht, sodass ich oft weinend aufwachte. Da ich eine sehr kalte Beziehung zu meinen Eltern hatte, musste ich es mit mir selbst ausmachen und habe nie jemandem davon erzählt.
Meine Angst vor dem Krieg begleitet mich schon mein ganzes Leben. Mit zunehmendem Alter wurde es besser – dann kam 2022.
Mit 18 lernte ich meinen Mann Sergei an der Universität in Riga kennen. Sechs Jahre lebten wir in seiner Heimatstadt in Russland, wo auch unsere Tochter Anastasia geboren wurde, bevor wir 1999 in die Ukraine zogen. Ein Freund hatte uns vorgeschlagen, gemeinsam eine Autowaschanlage im Zentrum von Odessa zu eröffnen. Wir bekamen noch zwei Söhne, Egor und Gleb. Vor sechs Jahren kehrte mein Mann zum Arbeiten nach Russland zurück. Wir sind immer noch verheiratet, aber es ist etwas kompliziert geworden.
Der Hauptgrund zu fliehen, war die Sicherheit meiner Kinder.
Erst vor Kurzem habe ich Weiterbildungskurse als Kosmetikerin belegt, ich war gerade dabei, mir ein neues Leben aufzubauen. Schon in der ersten Kriegsnacht – wir schliefen aus Sicherheitsgründen im Zero-Waste-Shop meiner Tochter – traf ich die Entscheidung, die Ukraine zu verlassen. Ich hatte wegen meines ältesten Sohnes Egor keine Wahl: Ich wusste, dass sie ihn bald in die Armee einberufen würden. Als wir am 25. Februar gemeinsam die Grenze nach Moldawien überquerten, war das der glücklichste Moment seit Langem für mich. Hätten sie ihn nicht passieren lassen, wir wären alle umgekehrt. Wir hätten Egor nicht allein in der Ukraine gelassen.
Die Realität fühlt sich an, als würde der Alptraum meiner Kindheit wahr.
Von da an waren wir elf Tage auf der Flucht. Die Menschen, die wir unterwegs trafen, hatten viel Mitgefühl, ich war positiv überrascht. In den Wäldern der Transsilvanischen Alpen blieb unser Auto wegen eines kaputten Thermostats liegen. Wir bekamen technischen Support von rumänischen Mechanikern – ohne Kosten, mit Empathie. Die Menschen gaben mehr, als wir je verlangt hätten. Wir wohnten bei gutherzigen Ungarn und waren beeindruckt von der Natur in Österreich. Auf der Flucht von Odessa nach München habe ich gespürt, wie sehr wir eine Familie sind, wie verbunden wir sind. [unter Tränen zu Anastasia gewandt] : “Ich habe dir vollkommen vertraut, ich habe gesehen, wie reif und unabhängig du bist – du kannst die Dinge selbst in die Hand nehmen.”
Für ein zweijähriges Kind ist seine Mutter die ganze Welt – auf der Flucht konnte ich diese Fürsorge und Liebe von Seiten meiner Tochter spüren.
Ich habe für mein Leben gelernt und realisiert, dass meine Kinder in jeder Hinsicht gut sind – ich bin sehr stolz auf jedes von ihnen. Ich bin stolz auf ihre Leistungen und ihre Erfolge, denn jedes der drei Kinder hat seine ganz eigenen. Auf der Flucht fühlte ich eine Art Integrität und tiefes Vertrauen in meine Kinder. Ein inneres Gefühl, Balsam für meine Seele, zu merken, dass meine Kinder so sehr an mir gewachsen sind. Ich empfinde ihnen gegenüber eine große Dankbarkeit.
Interview: Sandy Bossier-Steuerwald & Foto: © privat