Ich bewachte meine Enkelin und den Kater 2.500 Kilometer, aufrecht sitzend, wie ein Soldat.

Ich schaute aus dem Autofenster:
Mal sah ich tausende Menschen auf der Flucht
und russische Flugzeuge am Himmel,
dann wieder Seen, Schnee und Sonnenlicht.
(Svitlana K. mit Sunny)

Jeder Mensch hat irgendwann vor irgendwas Angst, aber so große Angst, hatte ich noch nie. Einmal fiel in der Nähe unseres Hauses eine Bombe und alles hat gebebt. Ich bin aufgesprungen und kalter Angstschweiß lief mir sturzbachartig den ganzen Körper herunter, an den Schläfen angefangen. Es war schrecklich und ich dachte wir sterben. Wir haben neun Nächte im Keller geschlafen, auch tagsüber mussten wir wegen Bombenalarm mehrmals da runter gehen. Alles in Okhtyrka wurde beschossen: Kaufhäuser, Verwaltungsgebäude, Schulen und das Elektrizitätswerk sind kaputt.

Sag mir, was kann ich machen als Frau mit Kind, wenn zehn Russen zur Tür reinkommen – was?!

Wir legten sechs Tage tausend Kilometer Richtung Westen zurück. In dem Auto unseres guten Freundes fuhren seine Mama, sein Opa, meine Enkelin Mishel und ich – plus unseren Kater Sunny. Ich habe tagelang auf dieser Rückbank gesessen, aufrecht und angespannt.Mishel saß die ganze Fahrt neben mir, mal lag sie schlafend auf mir. Ich hielt den Kater fest auf dem Schoß und bewachte sie beide wie ein Soldat. Tausende Menschen waren auf den überfüllten Straßen unterwegs, einmal brauchten wir zehn Stunden für 70 Kilometer. Ich dachte oft, ich schaffe es nicht. Es hätte alles passieren können und immer kam die Angst von oben. Zwei Mal habe ich russische Flugzeuge am Himmel gesehen und ich war sicher, jetzt machen sie uns kaputt. Mishel sagte stark und mutig:

 „Бабуся („Babuschka“, ukrainisch für Oma), du musst keine Angst haben – Wir kommen durch!“

Aufgrund der Sperrstunde begannen wir am frühen Abend, uns Schlafmöglichkeiten zu suchen. Wir haben fünf Nächte in kleinen ukrainischen Dörfern übernachtet, dort ist es sicherer als in den großen Städten. Wir schliefen kostenlos, privat und einmal in einer leerstehenden Schule für behinderte Kinder. Wir hatten immer etwas zum Essen und Trinken, Wärme und Dusche. Die Leute haben uns von ganzen Herzen alles gebracht, was wir brauchten.

Die Grenze nach Rumänien überquerten wir zu Fuß, denn ukrainische Männer unter 60 dürfen im Kriegsfall das Land nicht verlassen. Auf der anderen Seite wartete meine Tochter, um uns abzuholen. Sie ist 1500 km von Berlin durch die Karpaten gefahren, durch Polen, Ungarn, Slowakei bis nach Rumänien, und wieder zurück. Es war wirklich schwer, aber wir haben das geschafft. Am 9. März 2022 erreichten wir Berlin. Ich habe ich zwei Tage durchgeschlafen. Hier ist überall Ruhe. Hier ist alles gut.

Für mich war es das Wichtigste, meine Enkelin nach Deutschland zu bringen.

Nach dem Zerfall der Sowjet Union wurden drei Fabriken unserer Heimatstadt Okhtyrka geschlossen. Der russische Absatzmarkt fiel weg und somit auch etliche Arbeitsplätze. Ich habe mich in die Altenpflege umorientiert und unsere Enkelin Mishel bei mir aufgenommen. Vor zwei Jahren musste mein Mann mit unserer Tochter nach Deutschland gehen, um Geld für die Familie zu verdienen.

Durch den Krieg in der Ukraine ist meine Familie jetzt hier vereint, aber mein Herz ist zur Hälfte dort, auch weil die Eltern meines Mannes geblieben sind. Wir sprechen jeden Tag am Telefon, wir weinen jeden Tag am Telefon. Heute Abend leben sie noch, obwohl drei Bomben in der Nähe runtergingen. Ich werde noch verrückt vor Sorge. Der Opa ist 84, die Oma ist 77 und sie sagen:

„Wohin sollen wir gehen? Hier ist unser Haus, unsere Heimat. Hier ist unsere Erde, hier sterben wir.“


Interview & Foto: © Sandy Bossier-Steuerwald

I guarded my granddaughter and the cat 2,500 km, sitting upright, like a soldier.

“I looked out of the car window: sometimes I saw thousands fleeing and Russian planes in the sky, then again lakes, snow and sunlight.

Svitlana K. (53) with Sunny (1,5)

Everyone is afraid of something at some point in life, but I have never been so afraid. Once a bomb fell nearby and everything shook. Cold fear sweat ran down my body like a torrent, starting at my temples. I thought we were going to die. We slept in the basement for nine nights, everything in Okhtyrka was shelled: Department stores, administrative buildings, schools and the electricity plant were broken. At minus twelve degrees without water and heating, you have no alternative but to leave at some point.

Tell me, what can I do as a woman with a child when ten Russians come in the door?!

We drove a thousand kilometers westward for six days. In our friend’s car rode his mom, his grandpa, my granddaughter Mishel and me – plus our cat Sunny. I sat in that back seat for days, upright and tense. Mishel sat next to me the whole ride, at times lying on top of me asleep. I held the cat tightly in my lap and guarded them both like a soldier. Thousands of people were on the crowded roads, once it took us ten hours to cover 70 kilometers. I often thought I wouldn’t make it. Anything could have happened and fear always came from above. Twice I saw Russian planes in the sky and I was sure, now they will destroy us. But Mishel said strong and brave to me:

“Бабуся (“babushka” Ukrainian grandma), don’t be afraid – we’ll get through!”

Due to the curfew, we started looking for places to sleep in the early evening. We stayed five nights in small Ukrainian villages, it’s safer than in big cities. We slept for free, privately and once in a vacant school for disabled children. We always had something to eat and drink, warmth and shower. People brought us everything we needed from the bottom of their hearts. We crossed the border into Romania on foot, because Ukrainian men under 60 are not allowed to leave the country in case of war. On the other side, my daughter was waiting to pick us up. She drove 1500 kilometers from Berlin through the Carpathians, through Poland, Hungary, Slovakia to Romania, and back again. It was really hard, but we made it. We reached Berlin on March 9, 2022. I slept through two days. Here is silence everywhere. Here, everything is good.

For me, the most important thing was to bring my granddaughter to Germany.

After the collapse of the Soviet Union three factories in our home town of Okhtyrka were closed. The Russian sales market fell away and with it several jobs. I turned to caring for the elderly and took care of our granddaughter Mishel. Two years ago my husband had to go to Germany with our daughter to earn money for the family. Because of the war in Ukraine, my family is now united here, but my heart is half there, also because my husband’s parents stayed. We talk on the phone every day, we cry on the phone every day. Tonight they are still alive, even though three bombs went down nearby. I’m still going crazy with worry. Grandpa is 84, grandma is 77 and they say:

“Where shall we go? Here is our house, our home. Here is our earth, here we die.”


Interview & Photo © Sandy Bossier-Steuerwald