Erst jetzt, da ich in Sicherheit bin, versteht mein Gehirn: In der Ukraine herrscht Krieg.

„Wenn ich meine Gefühle einschließe, kann ich nicht gesund werden“, sagt Katya K. (24) zu ihrer Fluchtgeschichte.

Vier Tage im Untergrund gelang es mir die Grundbedürfnisse nach Unterkunft, Nahrung und Wasser zu befriedigen. Das Glück lag im Kleinsten: ein Lächeln, ein Spiel mit dem Hund, ein Hauch frischer Luft. Ein Moment Sonnenlicht gab mir Hoffnung und den Mut, wieder nach unten zu gehen. Jetzt, da ich in Sicherheit bin, kommen andere Bedürfnisse auf: der Wunsch nach Gesellschaft, Wissen, Ästhetik und Liebe; so wie Abraham Maslow in „Die Pyramide der Bedürfnisse“ sagte:

Der Mensch wird nie zufrieden sein, er will immer mehr.

Mit dem Einzug in das Studentenwohnheim der Kharkiv University of Arts im Jahr 2019 hatte für mich ein neuer Lebensabschnitt begonnen. Vorher lebte ich alleine und nun musste mich plötzlich mit drei anderen Mädchen auseinandersetzen. Als Schauspielstudentin eröffnete sich mir das Leben und fing an, schneller und interessanter zu werden. „Warum dieses Zweitstudium?“, mögen Sie sich vielleicht fragen. Nun, ich hatte das Bedürfnis, auf einer Bühne zu stehen und etwas mitzuteilen, den Menschen eine mögliche Wahrheit des Lebens zu vermitteln. Früher war ich sehr schüchtern und ich frage mich auch heute noch manchmal, warum tue ich mir das an?

Das Theater hat mein Leben verändert – ich bin selbstbewusster geworden und habe Selbstliebe gefunden.

Am 24. Februar 2022 wachten wir um 5 Uhr morgens von einem seltsamen Geräusch auf. Wir hatten gewusst, dass es zu einem Krieg kommen könnte, aber ich persönlich wollte im Voraus nicht einmal darüber sprechen. Als das Geräusch näher kam, verließ ich überrascht das Wohnheim ins Freie: Die Straße war mit Hunderten von Menschen aus der Nachbarschaft überfüllt. Ich hatte noch nie so viele Menschen auf einmal draußen gesehen. Sie schienen irgendwie verloren zu sein, mit ihren Rucksäcken in den Händen.

Manche haben geweint, manche gelacht. Es war eine allgegenwärtige Hysterie.

Ich war sofort in Kampfstimmung: „Einfach machen und bloß nicht nachdenken“. Es war gruselig. Ich habe einem Freund meine EC- Karte gegeben, um noch rechtzeitig alles Bargeld von meinem Bankkonto abzuheben, bevor der Geldautomat leer war. Ich steckte physisch 3000 UAH-Scheine in meine Hosentaschen und ging zum Lebensmittelgeschäft, um die notwendigen Lebensmittel zu kaufen – Fischkonserven und etwas Gemüse, das nicht schnell verdirbt. Außerdem haben sich die Leute mit Wasser eingedeckt, weil man in der Ukraine nicht aus dem Hahn trinken kann.

Gegen 8 Uhr rief meine schockierte Schwester aus Tschernihiw an: “Okay, Nastya, ich glaube, es ist Krieg!”

Im Laufe des Tages wurde das Bombardement schlimmer. Da das Studentenwohnheim neun Stockwerke hat, aber keinen sicheren Schutzkeller, riet uns die Hausmeisterin, sofort in die U-Bahn zu gehen. Die nächste U-Bahnstation war glücklicher Weise nur zwei Gehminuten entfernt. So begann mein Leben im Untergrund von Charkiw – es dauerte vier Tage, Tage und Nächte, aber es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Manchmal ging ich nach draußen, aber nicht lange, nur um schnell eine warme Mahlzeit zu kochen oder zu duschen.

Als ich mir die Haare wusch, hatte ich Angst, die Sirenen unter Wasser zu verpassen.

Darunter waren Menschen jeden Alters – Ukrainer, Inder, Chinesen … Einige von ihnen lebten in den angehaltenen Zügen. Wir freundeten uns mit einer Familie und ihrem kleinen Hund aus der Nachbarschaft an. Ich habe immer den gleichen Schlafplatz in der Nähe der Mittelsäule gewählt, weil ich mir einbildete, das wäre der sicherste Platz. Einmal knallte jemand mit einem durchdringenden Geräusch eine Tür zu. Die Leute sprangen erschrocken auf und ich hatte große Angst, zu Tode getrampelt zu werden. Aber mein Freund – der ziemlich groß ist – rief mit durchdringender Stimme: „Stopp – Keine Panik! Es war nur eine Tür.“

Von Tag zu Tag wurde es weniger voll. Viele Studenten beschlossen, wieder in den Wohnheimen zu schlafen, andere gingen auf die Flucht und waren einfach weg. Die Leute verabschiedeten sich nicht, sie kamen am nächsten Abend einfach nicht zurück. Es war keine schlechte Absicht und aus humanitärer Sicht war die zwischenmenschliche Erfahrung durchaus positiv: Wir haben uns gegenseitig geholfen, wuchsen zusammen und wurden uns näher.

In jenen Tagen im Untergrund wurden wir zu einer Art Gemeinschaft. Wir lernten die Leute neben uns gut kennen.

Als russische Soldaten in Militärfahrzeugen in unserer Gegend ankamen, wurde mir klar, dass meine Zeit gekommen war, Charkiw zu verlassen. Mein Freund kam von oben zurück und bestätigte: „Katya, hier ist es nicht mehr sicher. Die U-Bahnstation lässt sich nicht mal abschließen!“ Aus Sorge vor Terroristen entschloss ich mich, noch am selben Tag auf die Flucht zu gehen und packte schnell alle notwendigen Dinge zusammen. Ich beschloss, es mit dem Zug nach Lemberg zu schaffen, wo einige Klassenkameraden Unterschlupf gefunden hatten. Am Ende musste ich meine Freunde zurücklassen, weil sie zu viel Angst hatten mit mir zu gehen. Es war eine schwere Entscheidung, aber ich konnte nicht länger warten. Ich weiß nicht, ob sie jemals rauskommen oder morgen sterben werden.

Am Mittag des 28. Februars nahm der ehemalige Chef meines Vaters drei Leute aus der Nachbarschaft und mich mit zum Bahnhof von Charkiw. Wir fuhren durch Charkiw – mit 1,5 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt der Ukraine – und ich war entsetzt, als ich zum ersten Mal das ganze Ausmaß der Zerstörung sah: die zerbombte Stadt, verbrannte Autos, diese Asche, zerstörte Gebäude – das war beeindruckend. Wir schauten aus dem Autofenster, fassungslos, fast sprachlos, dann flehte das Mädchen, das neben mir saß:

Fang jetzt bitte nicht an zu weinen, sonst breche ich selbst in Tränen aus.

Die Züge waren überfüllt, viele Türen blieben geschlossen. Wir rannten um den Zug herum, versuchten, irgendwie noch einzusteigen. Es war Chaos und die Leute schrien in Panik. Der Schaffner rannte auf uns zu und sagte: “Kommt schon, rein! Geht einfach – Geht! Geht!” Die Fahrt von Charkiw nach Lemberg dauerte letztlich 30 Stunden, also fast doppelt so lange, wie gewöhnlich. Freiwillige nahmen uns auf, und ich lebte bis zum 8. März 2022 in einem Flüchtlingszentrum, auf meine Schwester und meinen Mops wartend, die nachkommen sollten.


Interview & Foto © : Sandy Bossier-Steuerwald

Only now that I am safe, my brain realizes: There is indeed war in Ukraine.

“If I lock up my feelings, I can’t be healthy,” Katya K. (24) states, telling her story.

Four days in the underground I was able to satisfy the basic needs of shelter, food and water. Happiness lay in the smallest: a smile, a game with the dog, a breath of fresh air. A moment of sunlight gave me hope and the faith to go back down. Now that I am safe, other needs arise: the desire for company, knowledge, aesthetics and love; just as Abraham Maslow stated in “The Pyramid of Needs”:

Man will never be satisfied, he always wants more.

Moving into the dormitory of Kharkiv University of Arts in 2019, a new phase in my life had begun. Before, I was living on my own and suddenly, I was forced to deal with three other girls. As a Student of Acting, life opened and started to be faster and more interesting. “Why this second degree?”, you may wonder. I felt to share something from a stage, have people listen to a possible truth of life. In the past, I used to be very shy and still today I sometimes ask myself, why am I doing this?

Theatre has changed my life – I became more confident and found self-love.

At 5am on February 24th, 2022 we woke up from a strange noise. We had known a war could happen, but I personally didn’t even want to talk about it, in advance. When the sound came closer, I left the dormitory for outdoors in surprise: It was crowded with hundreds of people in the street nearby. I had never seen so many people outside, at once. They seemed kind of lost, with their backpacks in hands.

Some cried, some laughed. It was a pervasive hysteria.

Immediately, I got in a fighting mood: “Just do it and don’t think”. It was scary. I handed out my money card to a friend to have quickly withdrawn all cash from my bank account just in time, before the ATM machine was empty. I physically put 3000 UAH notes in my pants pocket and headed for the grocery store, buying a necessary food supply – canned fish and some vegetables that do not spoil fast. Also, people stocked up on water because you cannot drink from tab in Ukraine.

Around 8 a.m. I called my sister from Chernihiv in shock: “Okay, Nastya, I think it’s war!”

Over the day, the bombing became worse. Since the student dormitory has nine floors, but no save shelter, the maintenance lady advised us to immediately go to the underground. The nearest subway was only two minutes walking distance. That’s how my life in the underground of Kharkiv began – it lasted for four days days and nights, but it felt like forever. Sometimes I went outside, but not for a long time, only to quickly cook a warm meal or take a shower.

When I was washing my hair, I was afraid, that I might miss the air raid alarm under water.

Underneath was people of all ages – Ukrainians, Indians, Chinese… Some of them living inside the stopped trains. We became friends with a family with a small dog from the neighborhood. I always chose the same place to sleep near the middle column, because I figured, it would be the saftest spot. Once, someone slammed a door with a piercing noise. People jumped up in shock and I was very afraid of being trampled to death. But my friend – who is quite big – shouted with a penetrating voice: “Stop panic! It was just a door.”

From day to day, it became less crowded. Students decided to sleep in the dorms, others went on the run and were gone. People didn’t say good-bye, they just didn’t return the next evening. It was not a bad intention, from a humanitarian point of view, the interpersonal experience was quite positive: We helped each other, became common and pleasant with each other.

In those days in the underground, we became kind of a community. We knew the people next to us.

When Russian soldiers arrived in military vehicles in our area, I realized that my time had come to leave Kharkiv. My friend returned from upstairs and confirmed: “Katya, it’s not safe here, anymore. The subway station cannot be locked!” Worried about terrorists, I decided to go on the run the same day and quickly packed all the necessary things. I decided to try to get to Lviv by train, where some classmates had found shelter. In the end, I had to leave my friends behind, because they were too scared to leave. It was a hard decision, but I couldn’t wait any longer. I don’t know if they will ever get out or die tomorrow.

On February 28th at noon my father’s former boss gave me and three people from the neighborhood a ride to Kharkiv Railway Station. We drove through Kharkiv -the second largest city of Ukraine with 1,5 million residents- and I was horrified to see the whole extent of the destruction for the first time: the bombed city, burnt cars, these ashes, destroyed buildings – it was impressive. We looked out of the car window, stunned, almost speechless, then the girl sitting next to me begged:

Don’t you start crying now or I’ll burst into tears myself.

At the station, the incoming train remained with closed doors. We were running around, trying to somehow still get on the train. It was chaos and people were screaming in panic. The conductor ran up to us and said, “Come on, get in! Just go – go! Go!” In the end, the trip from Kharkiv to Lviv took 30 hours, almost twice as long as usual. Many volunteers took us in, and I lived in a refugee center until March 8th, 2022, waiting for my sister and pug to join us.


Interview & Photo ©: Sandy Bossier-Steuerwald