Im deutschen Exil muss Nastia (27) erkennen, dass man auf der Flucht vor dem Krieg in der Ukraine nicht vor sich selbst fliehen kann: Die eigenen Probleme holen einen ein, egal wo man ist.
Ich bin jetzt 27 Jahre alt und habe einen Master-Abschluss in Klinischer Psychologie. 2019 zog ich nach Odessa, wo mir die Menschenrechtsorganisation “insight” eine Stelle als Büroleiterin anbot. “insight” macht sich für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Queers stark. Da es in Odessa unüblich war, sich als diverse Person in einer Gruppe zu organisieren, beinhaltete meine Aufgabe, die Gemeinschaft zu erweitern.
Ich bezeichne mich als bisexuell und gehe offen damit um, seit ich zwölf bin.
In Osteuropa haben viele Eltern ein Problem damit, wenn ihre Kinder queer sind – Akzeptanz fällt schwer und schlechter Umgang ist oftmals die Folge. Ich hatte nie Probleme mit meiner Familie, ich habe keine konfrontativen Eltern, sie sind sehr liebend und annehmend. Queer zu sein hatte keinen nennenswerten Einfluss auf mein Leben, außer im Jahr 2019, als ich an der „Odessa Pride“- Parade teilnahm und von Ultrarechten geschlagen wurde. Sie spritzten mir diese Flüssigkeit in die Augen und ich hatte eine Verbrennung zweiten Grades im Gesicht… aber das war nur einmal.
Um den Jahreswechsel 2021/22 wollte ich weiter nach Kiew ziehen. Kiew ist liberal, meine Freunde wohnten dort und ich hatte einen Job als Fundraising-Koordinatorin bei einem politischen Nachrichtensender gefunden. Als ich Ende Januar endlich eine Wohnung gefunden hatte, war der Krieg bereits in aller Munde. Umgehend brachte ich meinen Hund zu meiner Familie nach Moldawien, weil ich nicht wusste, was passieren würde. Es war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe, bis heute.
Zwei Tage vor Kriegsbeginn wurden wir alle von der Arbeit freigestellt, ich war in der Probezeit und sie kündigten mir den Vertrag – offensichtlich wussten sie bereits, was geschehen würde. Wenigstens haben sie mich für den einen Monat voll bezahlt…
Am Morgen, als der Krieg ausbrach, war ich zu Hause. Ich wurde von Sirenen und Bomben gegen 6:30 Uhr geweckt. „Oh mein Gott, es war so laut!“ Ich nahm ein paar Schlaftabletten und blieb einfach liegen. Ich wollte die Realität nicht wahrhaben – habe nicht akzeptieren können, dass „es“ wirklich passiert. „Es“ fühlte sich weit weg an und ich wollte, dass es so bleibt. Als ich gegen 14 Uhr wieder erwachte, wusste ich jedoch sehr wohl, was los war: Krieg.
Mit den Schlaftabletten konnte ich das alles vorübergehend ausblenden.
Ich öffnete Telegram und fand eine Menge Chat- Nachrichten vor. Freunde hatten sich über Möglichkeiten ausgetauscht, wo man sich in Kellern verstecken könne. Ich blieb jedoch zu Hause und überlegte, was ich tun sollte. Um mich vor Glasscherben zu schützen, klemmte ich eine Matratze zwischen Fenster und Balkon. Ich rief meine Eltern an. Ich überlegte zu Freunden gehen, aber alles war zu weit weg.
Ich besitze kein Auto, fand kein Taxi und kann nicht Fahrrad fahren.
"Nachdem ich zwei Tage lang mutterseelenallein war und mit Schlaftabletten der Dinge geharrt hatte, packte ich ein paar Klamotten, die ich wirklich nicht brauchte: Ich ging in Sportkleidung in den Wintertag hinaus, ohne Unterwäsche, aber mit zwei Schals, die mir meine Großmutter geschenkt hat."
Vor wenigen Wochen habe ich meinen Job hier in Berlin verloren. Ich hatte seit meiner Ankunft mit Transgender-Personen mit Migrationshintergrund gearbeitet, aber nach acht Monaten ein Burnout bekommen. Ich habe 24/7 mit Flüchtlingen aus der Ukraine gearbeitet, ich habe die Evakuierung nach Europa in Zusammenarbeit mit einer Organisation koordiniert, deren Namen ich nicht nennen kann. Man hat viele Kontakte in verschiedene Länder und kontaktiert sie online bzw. über ein privates Telefon… Es ist gefährlich und schau mich an, wie ich jetzt bin: Das größte Problem besteht darin, mich um mich selbst zu kümmern.
Ich bin in eine Depression geschlittert, und ich leide noch immer darunter.
Ich kann nichts tun und bleibe zu Hause. Ich habe meinen Hund hier, er kam mit freiwilligen Tierschützern, die ihn hierhergebracht haben – natürlich für Geld. Ich möchte die Ukraine besuchen, aber etwas später, wenn ich mehr Geld habe, wieder gesünder und stabiler bin. Ich habe eine enge Beziehung zu meiner Mutter, sie ist wie eine Freundin – ich schreibe ihr jeden Tag. Ich würde mich sehr freuen, könnten meine Eltern mich besuchen, aber das werden sie nicht. Sie haben alles in der Ukraine – Arbeit, Leben, Schule und meinen Teenager-Bruder, der sich in einer Lebensphase befindet, in der er nicht umziehen möchte.
I
ch weiß auch nicht, was mich in der Ukraine erwarten würde, gibt es eine Perspektive für ein Leben dort? Selbst wenn der Krieg vorbei wäre, wird es viele Jahre dauern, bis das Leben und die Möglichkeiten zurückkehren… Wir haben uns den Krieg irgendwie gar nicht als echten Krieg mit Panzern und Waffen vorgestellt, wir hatten eigentlich überhaupt keine Vorstellung. Vielleicht dachten wir eher an eine Art modernen “Informationskrieg”, ohne Tote und Opfer. Ich würde gerne in Berlin bleiben. Ich habe einen neuen Partner, seit etwa zwei Monaten.
Ich war schon 15 Mal in Berlin und träumte davon, hier zu leben – aber nicht zu diesem Preis!
Vielleicht kann ich hier im Sommer ’23 zu einem normalen Leben zurückkehren. Ich habe den Drang, so schnell wie möglich wieder zu arbeiten, ich möchte eine interessante Aufgabe übernehmen, bei der meine Hilfe gebraucht wird. Das Hauptanliegen ist derzeit, gesund zu werden und wenn ich wieder anfange mit Menschen zu arbeiten, brauche ich ein paar Grenzen. Ich neige dazu, zu viel zu tun, mehr zu übernehmen, als es für mich gut ist. Ich will möglichst vielen Menschen helfen und darüber vergesse ich immer wieder, mir selbst zu helfen… Und am Ende ist niemandem geholfen.
Ich glaube, das wird jetzt zu viel für mich. Wir machen besser Schluss.
„Rauchst Du? Hast Du zufällig eine Zigarette?“ fragt Nastia mich, als wir das Lokal verlassen. Wir gehen ein Stück gemeinsam mit dem Hund Richtung U-Bahnhof Uhlandstraße. Sie telefoniert, will umgehend zu einer Freundin, um Bargeld zu leihen. Anschließend muss sie ihre Dealerin aufsuchen, um Nachschub zu holen. Zum Zeitpunkt unseres Treffens nimmt Nastia GHB in Tropfenform (liquid ecstasy) einmal täglich. Aber wenige Stunden nach der Einnahme beginnen bereits heftige Entzugserscheinungen.
Interview & Foto: © Sandy Bossier-Steuerwald