Als Pazifistin sehe ich keine Lösung darin, sich gegenseitig umzubringen.

Dies ist die Geschichte von Ganna Schewtschenko – Eine Geschichte über das Anerkennen eigener Wurzeln, der Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff sowie die Suche nach der eigenen Identität.

Der Fahrer hielt den Wagen an und forderte uns zwölf Insassen auf, auszusteigen und die ukrainische Nationalhymne zu singen. Im Prinzip habe ich kein Problem damit, aber die Tatsache, es mitten in der Nacht zu tun, auf der Flucht vor dem Krieg… Ich fragte mich, was der Fahrer, der sich mit jedem Kilometer mehr und mehr als Hardliner-Faschist entpuppt hatte, mit mir machen würde, wenn ich den Liedtext vergessen würde. Zum Glück stach meine kleine Schwester beim Singen hervor: Oksana will Opernsängerin werden und hat die Hymne verinnerlicht. Sie war erstaunlich entspannt, während mir erst in diesem Moment richtig bewußt wurde, dass ich ihr Leben in meinen Händen hielt.

Es ist kompliziert, die Frage nach meiner Herkunft zu beantworten.

Auf dem Papier bin ich Ukrainerin, aber ich habe polnisch-tatarische, mongolische und chinesische Wurzeln. Ich stamme von zwei Stämmen von Indigenen ab: amerikanischen und sibirischen. Außerdem fließt das Blut von vielen Ukrainern und Russen in mir…. In dieser Hinsicht ist es kompliziert, die Frage nach meiner Herkunft zu beantworten. Ich interessiere mich für meine Wurzeln und möchte sie nicht verleugnen müssen, nur um sagen zu können, dass ich zu 100 Prozent Ukrainerin bin.

Ich komme aus Odesa und studiere seit 2019 in Berlin. Im August 2021 ging ich für ein Praktikum an die Schwarzmeerküste zurück und zog für ein paar Monate wieder bei meinen Eltern ein. Sie besitzen eine Wohnung in Odesa, die sie selbst renoviert haben. Oksana, unsere vier Katzen und der Hund leben dort auch. Meine Eltern sind Kreativschaffende: Mein Vater malt, meine Mutter ist in der Modebranche. Sie ist seit 26 Jahren im Geschäft und verkauft luxuriöse Markenschuhe und Accessoires. Für März 2022 hatten wir geplant, gemeinsam zur Pariser Modewoche zu fliegen – aber durch den Ausbruch des Krieges war das hinfällig geworden.

Meine Mutter wurde in Russland geboren, besitzt aber einen ukrainischen Pass.

Da meine Mutter seit mehr als 30 Jahren in der Ukraine lebt, hat sie mittlerweile die ukrainische Staatsbürgerschaft. Ihr besonderer Sinn für Kunst und ihr individueller Modegeschmack machten ihr das Leben manchmal schwer: So kollidierte der kreative Geist meiner Mutter oft mit dem pragmatischen Verstand ihres Vaters, eines Armeegenerals. Beide sind sehr starke Persönlichkeiten – beide sind die Oberhäupter ihrer Familien. Mein Großvater mütterlicherseits wurde kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in der Ukraine geboren, aber seine Familie wurde zum Wiederaufbau nach Sibirien geschickt. Als ukrainischer General höchsten Ranges wurde er durch die gesamte Sowjetunion geschickt, seine Frau und seine Kinder folgten ihm auf Schritt und Tritt.

Meine Eltern drängten mich, so schnell wie möglich nach Berlin zurückzukehren. Im März 2022 hatte ich nur noch ein Semester vor mir, um mein Bachelor-Studium abzuschließen, aber es war mir egal – ich wollte in Odessa bleiben. Meine Eltern waren bereit, im Krieg zu sterben, solange sie wussten, dass die Kinder in Sicherheit sein würden – eine romantische Vorstellung von Familiengrenzen. “Tu es für Oksana, sie ist noch so jung, du musst sie an einen sicheren Ort bringen”, beharrte meine Mutter, während sie sich um meinen Vater kümmern wollte. Sie ist nämlich der Meinung, dass er ohne sie nicht leben kann…

Mein Vater wurde in Sibirien geboren und hat einen russischen Pass.

In den neunziger Jahren zog seine Familie in die Ukraine, wo er meine Mutter kennenlernte. Beide sahen für ihre Zeit ungewöhnlich aus, sie waren bekennende Freigeister: Meine Mutter trug ihr Haar kurz rasiert und blau gefärbt, dazu einen neonblauen Pelzmantel. Mein Vater hatte irgendwo eine Jeansjacke gefunden und den Schriftzug LOVE mit rosa Glitzer auf den Rücken genäht – ein Affront gegen den Staat: Die Universität zwang ihn wegen der Jacke zur Exmatrikulation, mit der Begründung, er habe keine korrekte politische Überzeugung…

Am Internationalen Frauentag, dem 8. März 2022, ging mein Vater los, um Blumen für meine Mutter zu holen. Ich habe keine Ahnung, wie er das gemacht hat und ich frage mich bis heute: “Wo kann man in Kriegszeiten Blumen kaufen?” Dennoch kam er mit einem Blumenstrauß für meine Mutter zurück. Es war das erste und letzte Mal, dass mein Vater für sieben Monate nach draußen ging. Als russischer Staatsbürger durfte er die Grenzen des Landes nicht überschreiten, und mit einer ukrainischen Frau konnte er schließlich nicht in die Armee eintreten! Meine Familie ist pazifistisch – wir sind gegen jede militärische Beteiligung.

Ich frage mich: “Wo kann man in Kriegszeiten Blumen kaufen?”

In der Zwischenzeit hatten auch einige Nachbarn begonnen, gegen meine Familie zu wettern. Sie standen vor der Wohnungstür im Erdgeschoss und beschimpften uns lautstark. Es war nur eine kleine Gruppe von fünf Personen, aber wie Sie wissen, besteht immer die Möglichkeit, dass eine größere Gruppe kommt und sich der kleinen Gruppe anschließt. Das Problem ist, dass der Krieg nationalisiert ist, er folgt einer patriotischen Idee. Ich habe nichts gegen Patriotismus an sich, aber wir alle wissen aus der Geschichte, dass es zu Problemen führt, wenn etwas zu extrem patriotisch und national wird….

Schließlich, am 9. März 2022, ging ich mit meiner Schwester auf die Flucht. Oksana wurde zehn Jahre nach mir geboren und doch sind wir wie Zwillinge. Manchmal habe ich gar das Gefühl, dass sie viel schlauer ist als ich: So war sie diejenige, die Socken und Unterwäsche auf die Flucht mitnahm (wofür ich ihr später sehr dankbar war), während ich ausschließlich an meine Kameraausrüstung dachte. Auf dem Weg zur Grenze mussten wir alle paar Kilometer wegen der Blockposts anhalten. Die bewaffneten Männer sahen sehr gestresst aus – ich vermute, viele von ihnen hatten noch nie eine Waffe in der Hand. Als einer dann meine Tasche mit den drei Kameras sah, begann er Fragen zu stellen: “Wer sind Sie? Arbeiten Sie für Russland?” Das Fotografieren war nur mit einem autorisierten Presseausweis erlaubt – ich versicherte, dass ich Studentin sei, ein Visum habe und meine kleine Schwester begleiten würde.

Meine Vorfahren sahen wie eine Mischung aus Asiaten und Slawen aus.

Meine Großmutter mütterlicherseits (die Frau des Armeegenerals) gehört zu einem Stamm sibirischer Indigener. Dieser Stamm spaltete sich vor Jahrhunderten: Ein Teil zog nach Alaska bzw. Kanada, der andere Teil blieb in Sibirien. Meine Großmutter ist also indigener Abstammung, und meine Vorfahren sahen wie eine Mischung aus Asiaten und Slawen aus. Wissen Sie, in der Sowjetunion galten die sibirische Indigene als Russen, und die Regierung versuchte, alle Dokumente zu beseitigen, die auf indigene Wurzeln der Menschen hinwiesen.

Und jetzt, ein Jahrhundert später, sitze ich mit meiner Schwester zusammengekauert in diesem Kleintransporter und worüber unterhalten sich die Fahrgäste? Über Fragen des reinen Blutes, der einfachen Herkunft, der ukrainischen Herkunft! “Sollte man in der Ukraine Russisch sprechen oder nicht?” Für mich war es anstrengend, weil sie eine Schwarz-Weiß-Sicht auf kontroverse Themen hatten, ich hingegen glaube an Grauzonen:

Ich unterstütze Russland nicht,

seine Politik und Regierung –

aber es gibt immer etwas, das dazwischen liegt.

Es waren viele ältere Menschen im Bus, und ich glaube, sie brauchten einfach eine Art Stimulation, um bei Kräften zu bleiben. Man kann ein oder zwei Tage lang wach sein, aber wenn kein Adrenalin nachkommt, das einen sechs Tage lang auf Trab hält, ist man irgendwann am Ende seiner Kräfte. Offensichtlich hielten diese Gespräche sie wach und hoffnungsvoll. Wahrscheinlich war es auch eine Überlebenstaktik – die Menschen versuchten, sich einen Reim auf die bizarre Situation zu machen, diese Flucht war schwer zu begreifen. Aber für eine Frau wie mich, die modern, aufgeschlossen und friedliebend ist, hat das die Situation nur verkompliziert. Also hielt ich mich aus allem heraus und tat so, als schliefe ich.

Den tätowierten Fahrer werde ich nie vergessen können.

Die Flucht erwies sich als eine lange, beschwerliche Reise von fünf Tagen. Ich war so verzweifelt. Ich erinnere mich vor allem an meine Irritation über die nicht enden wollenden Debatten und eine überwältigende Müdigkeit. Irgendwann habe ich einfach abgeschaltet und war einem Blackout nahe. Den einen Fahrer jedoch, den mit der radikal nationalistischen Einstellung, werde ich nie vergessen können: Nicht wegen seiner seltsamen, egogetriebenen Heldengeschichten oder weil er mit uns die ukrainische Nationalhymne sang, sondern wegen seiner Tattoos, die er uns am Ende der Fahrt stolz präsentierte: Er hatte sich eine riesige Landkarte der Ukraine auf den Rücken tätowieren lassen – eine riesige Landkarte der Ukraine mit einem riesigen Hakenkreuz-Tattoo darüber.


Interview  & Fotos ©: Sandy Bossier-Steuerwald

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