Im Moment des Abschieds erkannte ich den Wert des Seins über dem des Habens.

Maria Masliy (31) ist eine erfolgreiche Designerin für Damenschuhe und eine Frau auf der Flucht.

Bis vor kurzem bedeuteten mir materielle Güter sehr viel. Erst vor einem Jahr habe ich eine Wohnung im Stadtzentrum von Kiew gekauft. Ich habe diesen Ort geliebt und viel Zeit und Geld für eine schöne Inneneinrichtung ausgegeben. Darauf hatte ich jahrelang gespart. Aber auf der Flucht, als ich mit meiner Halbschwester, ihrer Freundin und ein paar Katzen im Auto saß, wurde mir plötzlich klar, dass das Leben viel mehr wert ist, als alles, was ich besitze.

Es fällt schwer, sich plötzlich von seinem ganzen Leben zu verabschieden.

Ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen, dabei hat mich vorrangig mein ukrainischer Großvater (83) unterstützt und wohl am meisten beeinflusst. Vor dem Krieg haben wir einmal im Monat gesprochen, jetzt sprechen wir zweimal am Tag. Ich empfinde eine noch größere Wertschätzung, nun das tägliche Leben mit ihm zu teilen, nicht selten führen wir philosophische Diskussionen.

Jedes Mal, wenn wir telefonieren, verabschiedet sich mein Großvater, als wäre es das letzte Mal.

Meine Großmutter (82) wiederum ist Russin. Sie kam im Alter von 20 Jahren nach Kiew und heiratete meinen Großvater. Sie hat ihr ganzes Leben damit verbracht, darauf zu warten, dass wir alle Russen werden. Das ist imperialistische Arroganz, wenn Sie mich fragen, aber ich konnte ihre Argumente nie ernst nehmen. Meine Großeltern leben bis heute noch zusammen, aber sie reden nicht miteinander. Sie bleiben in getrennten Räumen und sehen verschiedene Fernsehsendungen:

Meine Oma schaut russische Propaganda, mein Opa internationale Nachrichten.

Vor der ukrainischen Revolution im Jahr 2013 waren die Menschen – unter anderem aufgrund von Korruption – unsicher. Ihnen fehlte eine Zuversicht und der Glaube daran, dass sie die Möglichkeit bekommen würden, etwas zu tun, das eines Tages nicht von jemand ausgenutzt werden würde. Das änderte sich vor acht Jahren: Die ukrainische Unabhängigkeit führte zu einem steigenden Unternehmertum im ganzen Land. Das ukrainische Volk fühlte sich plötzlich frei und würdig, alles zu erreichen, was es wollte. Viele von uns haben ein eigenes Unternehmen gegründet und endlich unsere Träume wahr werden lassen. Ich war eine*r von ihnen mit dem Wunsch, etwas Großes zu erreichen!

Mein Traum war es, Schuhe zu produzieren – heute betreibe ich mein eigenes Schuhlabel “MARSALA”.

Vor sieben Jahren habe ich meine eigene Schuhmarke „MARSALA“ gegründet. Ich hatte eine Ausbildung in “Internationale Wirtschaft und Marketing”, jedoch keine Erfahrung in diesem Bereich. Ein Jahr später gewann ich ein Stipendium für einen Abschluss in Modedesign von HEARST UK für die Kingston University… MARSALA- Schuhe sind elegant, feminin, edel und trendy, jedoch wurden sie bislang ausschließlich in der Ukraine produziert, was jetzt ein Problem darstellt. Unsere Hauptfabrik in Charkiw wird jeden Tag intensiv bombardiert und niemand arbeitet im Moment – hoffentlich konnten die Hunderte von Arbeitern die Stadt rechtzeitig verlassen!

In der Ukraine zu sein ist keine Frage des Geldes mehr, es ist eine Frage der Sicherheit.

Wir werden die Herbst-/Wintersaison ’22 überspringen müssen, da wir bereits mit der Produktion in Verzug geraten sind. Ich habe darüber nachgedacht, die Produktion in die Westukraine zu verlagern, aber dort ist es auch nicht sicher und ich kann es mir nicht leisten, erneut alles zu verlieren… Im Moment suche ich nach Herstellern in Portugal und Spanien, um die Produktion ggf. dorthin zu verlagern. Das ist natürlich schade, denn wir arbeiten seit vielen Jahren mit vertrauensvollen und zuverlässigen ukrainischen Partnern zusammen. Aber um psychisch widerstandsfähig zu bleiben, bin ich gezwungen, neue Pläne zu machen und nach vorne zu schauen.

Wissen Sie, Frauen auf der Flucht haben keine andere Wahl, als mutig zu sein.


Interview: Sandy Bossier-Steuerwald/ Fotos ©: MARSALA & privat

Seit Juni 2022 produziert Maria Masliy nun Militärschuhe. Wenn Sie hierfür etwas spenden möchten, finden Sie auf dieser Website weitere Informationen!