Mama, lass uns gehen – Wir wollen nicht sterben!

Wenn Olena Morozova (43) ihre Tochter anschaut, sieht sie in ihr einen Teil ihrer Fortsetzung.

Mit sieben Jahren begann ich zum ersten Mal über den Tod nachzudenken. Damals war die Welt für mich ein mysteriöser, fremder und beängstigender Ort. Meine Schwester war zwei Jahre älter als ich. In unserer Kindheit haben wir viel gemeinsam gespielt und so getan, als seien wir Puppenmuttis. Wir hatten eine starke emotionale Verbindung. Damals habe ich von der Zukunft geträumt – wie meine Schwester und ich erwachsen sein und zusammen mit unseren richtigen Töchtern spielen würden. Aber etwas in mir wusste schon damals, dass diese Vorstellung nie real werden würde. Tief in mir schlummerte eine Vorahnung.

Oft kam mir die Idee der Unsterblichkeit in den Sinn.

Im Jahr 2021 hatte ich mir und meinen drei Kindern in Kiew ein schönes, interessantes und glückliches Leben geschaffen. Ich arbeitete als bildende Künstlerin an verschiedenen Fotoprojekten. Ich ging zu Kunstveranstaltungen, nahm an internationalen Ausstellungen teil. Neben meiner beruflichen Tätigkeit hatte ich Gesangs- und Klavierunterricht genommen, Yoga gemacht und die Freizeit mit Familie und Freunden genossen. Wir gingen oft zusammen ins Kino, um Zeichentrickfilme anzuschauen. Ich genoss das Leben. Wissen Sie, was mich am meisten irritiert? So sehr ich das Reisen liebte, so gerne kam ich immer wieder nach Hause zurück.

Jetzt weiß ich nicht einmal, ob es ein Zuhause gibt, in das ich zurückkehren kann.

Plötzlich brach im Februar 2022 wirklich der Krieg aus und niemand konnte es fassen. Es war total surreal. Von unserer Wohnung im 22. Stock hatte ich einen sehr schönen Blick auf einen großen Teil der Stadt mit dem Fluß namens Dniper. Ich beobachtete panische Menschen, die vor Supermärkten und Tankstellen Schlange standen. Mein Ex-Mann nahmen die Einladung von Freunden aus Polen an, bei ihnen Unterschlupf zu suchen. Ich beschloss, sehr sorgfältig zu packen: Warme Kleidung (es war ja Winter in der Ukraine), verschiedene Lebensmittel und viele Medikamente. Während ich es nicht eilig hatte, bestanden meine Kinder darauf endlich die Stadt zu verlassen: „Mama, lass uns gehen – Wir wollen nicht sterben!“

Die Situation am Bahnhof von Kiew war ein komplettes Chaos.

Mit all unseren Sachen rannten wir von einem überfüllten Bahnsteig zum nächsten. Die Züge fuhren scheinbar beliebig, ohne Fahrplan. Obwohl wir schließlich über Umwege nach Polen gelangten und uns in Sicherheit wähnten, war der erste Monat im polnischen Exil schrecklich. Ich hatte die schlimmsten Kopfschmerzen meines Lebens. Ich musste sogar Medikamente dagegen nehmen, diese andauernden, migräneartigen Schmerzen waren mir völlig neu. Außerdem war mir permanent kalt. Ich war nicht krank, aber ich fror. Ich verspürte den Drang so viele Decken wie möglich über mich zu legen, um mich einzuhüllen. Ich vermute, ich stand völlig unter Schock. Inzwischen begann mein siebenjähriger Sohn, permanent über den Krieg zu sprechen, erzählte nur noch von Soldaten, die Menschen töten. Jeden Tag, bis jetzt… Ich weiß wirklich nicht, wie lange wir im Exil bleiben müssen – Ich schätze vielleicht ein Jahr?

Der Krieg in meinem Land hat ein altes Trauma in mir geweckt, aber so habe es endlich verarbeiten können.


Obwohl ich in Polen in völliger Ungewissheit in Bezug auf die Zukunft war, nahm ich umgehend meine Arbeit wieder auf. Durch den Krieg in der Ukraine und das damit einhergehende Exil, spürte ich eine unmittelbare Verbindung zum „Tod“. Es fühlte sich wie eine Notwendigkeit an, den Moment festzuhalten. Die täglichen Meldungen und Nachrichten aus meiner Heimat haben mich sehr berührt. Ich fing an, meine Gedanken über gefolterte und getötete Menschen – insbesondere Kinder und junge Mädchen – in meine Kunstwerke einfließen zu lassen. Die ganze Situation in Europa im Jahr 2022 hat ein altes Trauma wachgerufen:

Durch meine Kunst habe ich all den Schmerz rausgelassen und den Tod meiner Schwester vor 13 Jahren verarbeitet.

Als meine Schwester 2009 bei einem Unfall ums Leben kam, war ich geschockt. Es fühlte sich an, als würde in meinem Inneren ein Krieg ausbrechen. Nur acht Tage später schenkte ich meiner Tochter Maria das Leben. Instinktiv wissend, dass ich dem Baby die Freude des Seins verdanke und schulde – und mir die Freude der Mutterschaft nicht nehmen durfte – verschloss ich die Trauer über den Tod meiner Schwester tief in meinem Inneren. Ich konnte ihn damals nicht akzeptieren und mich der Trauer hingeben und so trug dieses Trauma jahrelang mit mir herum. Ich fragte immer wieder: „Wie kann die Natur zulassen, dass Menschen so sterben?“

Zehn Jahre gingen ins Land, bis ich 2016 ein Fotoprojekt startete, das ich meiner Schwester widmete. Darin begann ich, meine persönliche Beziehung zum Tod zu erforschen und zu reflektieren. Es war ein fortlaufendes Work-in-Progress, erst jetzt fühle ich, dass das Projekt einer übergeordneten Verbundenheit folgte: Ich habe festgestellt, dass die neuen Fotos, die ich im Frühjahr 2022 in Polen zum Thema Tod machte, mein Projekt abzurunden scheinen. Ich habe das Gefühl, dass die visuelle Serie kurz vor dem Abschluss steht. Das Fotoprojekt heißt “Ich wusste, sie würde niemals Kinder bekommen.”

ERFAHREN SIE MEHR über die Kunstwerke von Olena Morozova auf ihrer Website: www.olenamorozova.com/ oder auf Instagram : www.instagram.com/olenamorozova.art/


Interview: Sandy Bossier-Steuerwald & alle Fotos: © Olena Morozova/ Teaser mit Spiegel zum Projekt „Maria“, 2016-2020; Projektauswahl inkl. Selbstporträt

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