Eines Tages werden unsere Kinder in ihre Heimat zurückkehren und die Ukraine wieder aufbauen.

Sie fragen mich, was passiert ist? Ich antworte: Krieg ist passiert!Vira Halkina konnte 2022 in die Schweiz fliehen.

Es blieb nur eine intakte Straße, die von Kiew nach Westen führte. Also reihten wir uns in die Autoschlange ein, um uns in einem stundenlangen Stau durch dieses Nadelöhr zu schlängeln. Wir sahen beschädigte Autos ohne Fenster, Karosserien mit Einschusslöchern und verletzte Menschen auf den Rücksitzen. In manchen Heckscheiben prangten selbstgebastelte Pappschilder, auf denen die Leute „KINDER“ geschrieben hatten, in der Hoffnung, die Russen würden Familien mit Kindern verschonen. Ein Trugschluss, wie wir heute wissen.

Mein Sohn weinte nicht, er benahm sich wie ein großer Junge, mutig und reif.

Mit 13 ist Daniel alt genug, um zu verstehen, was passiert. Auf der Flucht sprachen wir mit ihm über das Worst-Case-Szenario: Falls wir, seine Eltern, getötet würden, er aber am Leben blieb, gaben wir ihm Anweisungen und sprachen mit ihm darüber, was zu tun sei, wenn die Russen auf uns schießen. Wir gaben ihm eine flache Börse mit Fotos und Telefonnummern von Verwandten und Freunden, die er im Notfall dann kontaktieren könnte. Eine Woche vor Kriegsbeginn hatte unsere Regierung die Menschen aufgefordert, diese Notfalltaschen vorzubereiten.

Ich habe drei Beutel vorbereitet, für eine Woche zum Überleben – einen für meinen Sohn, meinen Mann und mich – mit Wasser, Lebensmitteln, Feuerzeug und Medizin.

Am 23. Februar, der Nacht vor dem Kriegsbeginn, hatte Daniels Fußballmannschaft das Halbfinale eines sehr wichtigen Fußballturniers in Kiew gewonnen. Nur wenige Tage später sollten sie gegen Dynamo Kiew spielen – eine der bekanntesten ukrainischen Kindermannschaften. Der Abend war gut, wir gingen in ein Restaurant und tranken Wein, um mit unserem Team den Sieg zu feiern. Um sechs Uhr am nächsten Morgen rief meine Schwester an, um mir die Nachrichten mitzuteilen. Es war schwer zu begreifen, weil wir viele enge Verbindungen zwischen unseren Ländern haben. Wir haben russische Verwandte und Russen haben Verwandte in der Ukraine.

Bereits um sechs Uhr stauten sich tausende Autos auf den Straßen.

Aber egal, ich zog mich sofort an und ging zum nahegelegenen 24-Stunden-Späti. Draußen musste ich anstehen und drinnen waren schon fast alle Regale leer. Alles, was einst vorhanden war, wurde leer gekauft. Hunderte von Menschen drängten sich, um Öl, Fleisch und Fisch zu ergattern. Die Banken waren ebenfalls überfüllt, weil Jede*r noch versuchte, schnell Bargeld abzuheben. Die Menschenmassen kamen auf der Flucht durch unsere Stadt (Obukhiv), die etwa 20 km außerhalb von Kiew liegt. Alle wollten fliehen, nachdem sie erkannt hatten, dass sie von Russland nichts Gutes mehr zu erwarten hatten. Die Menschen flohen mit Kindern, mit älteren Menschen, mit Haustieren – sie rannten und rannten und rannten … alle rannten. Und alle benötigten Benzin, um an die Grenze zu kommen. An der Tankstelle standen ein paar hundert Autos, man musste fünf Stunden warten, es war eine Katastrophe.

Wenn Sie fast alles in Ihrer Heimat haben, das ihnen lieb ist, fällt es sehr schwer, die Tür zu schließen und ins Unbekannte zu ziehen.

Meine Familie und ich harrten eine Woche lang zuhause aus. Als unsere Regierung dann warnte, dass russische Truppen in Kürze versuchen würden, in Kiew einzumarschieren, entschieden wir uns ebenfalls zu gehen. Wir fuhren mit dem Auto nach Tulchin, einer Stadt in der Region Vinitsa, nahe der Grenze zu Moldawien, um bei Freunden von uns zu übernachten. Wir wollten Zeit gewinnen und abwarten, wie sich die Dinge in der Ukraine entwickeln. Wir waren zu elft in diesem Haus, alle unsicher, was sie als Nächstes tun sollten, und alle hofften, bald nach Hause zurückkehren zu können.

Man versucht sich bis zum Schluss einzureden, dass alles gut wird.

Man findet Gründe zu bleiben. Wir haben überlegt, ob wir fliehen sollen oder nicht – so viele Motive sind gut abzuwägen – es hat eine Weile gedauert, bis wir uns entschieden hatten. Am Ende war es mein Mann, der darauf bestand, dass ich mit unserem Sohn würde gehen müssen und er bleibt. Daniel ist sein einziges Kind, und ich denke, es ist ein natürlicher Instinkt, sein Kind zu beschützen.

Wie Wolodymyr Selenskyj in den Nachrichten betonte: „Wenn Sie unserer Armee helfen wollen, verlassen Sie Kiew und Miropol… Wenn Sie Verwandte im Ausland haben, nutzen Sie bitte jede Gelegenheit, um zu fliehen!“ Unser Präsident hatte alle Mütter aufgefordert, nicht ihre Häuser, sondern ihr Leben zu schützen. Die ukrainische Armee tut ihr Bestes, aber sie kann nur kämpfen und gewinnen, wenn keine Zivilisten in der Stadt sind. Mir wurde auch klar, dass der Schutz unserer Kinder an erster Stelle steht: Wir müssen die Chance nutzen, sie glücklich zu machen, ihnen eine gute Ausbildung zu ermöglichen und sie eines Tages gesund und mit gutem Wissen in die Ukraine zurückzubringen.

Die Zukunft als Ukrainer liegt in unseren Kindern. 
Eines Tages werden sie gesund und gebildet zurückkehren 
und ihre Heimat wieder aufbauen.

Mein Mann brachte uns zum Grenzübergang Checkpoint „Mohyliv-Podilskyi – Otach“, wo der Fluß Dnjestr unsere Heimat und Moldawien trennt: Die Ukraine liegt an einem Ufer und Otach/ Moldawien am anderen. Wer hier die Grenze passsieren will, muss die Brücke überqueren. Wir hatten uns für diesen Weg entschieden, weil wir wussten, dass er nicht überfüllt sein wird (aufgrund einer interaktiven Karte, mit der man in Echtzeit Passantenströme verfolgen kann).

Ich überquerte mit meinem Sohn die Brücke und mein Mann blieb am anderen Ufer zurück.

Er versprach, sich zu schützen, mein Sohn und ich weinten. Während der sechsminütigen Überquerung zu Fuß wandte ich meinen Kopf und sah meinen Mann an. Als er allein auf der ukrainischen Seite des Flusses stand, glaube ich, ihn weinen gesehen zu haben, aber ich bin mir nicht gan z sicher. Das einzige Mal, dass ich ihn davor je hab weinen sehen, war, als er einen guten Freund viel zu früh verloren hat.

Beim Abschied fragte ich mich, ob ich meinen Mann, meine Verwandten oder mein Land jemals wiedersehen werde… es war sehr, sehr schmerzhaft.

Mein Mann und ich hatten uns gegenseitig versichert, dass wir alles tun würden, um am Leben zu bleiben, unserem Sohn eine Ausbildung zu ermöglichen und einen Weg zu finden – nicht zu einem besseren – sondern zu einem normalen Leben. Aber eigentlich kann man in einer Situation wie dieser rein gar nichts versprechen, verstehen Sie? Alle Worte sind nur Worte. Trotzdem sind wir fest davon überzeugt, dass wir uns bald wiedersehen werden, ob in der Ukraine oder in der Schweiz – weil wir es uns versprochen haben.


Interview: Sandy Bossier-Steuerwald & Foto: © privat

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