Valeriia T. (64) ist seit dem 1. März 2022 in Lübeck, Deutschland.
Eigentlich hätte ich am 24. Februar 2022 einen Arzttermin zur post-operativen Wundversorgung gehabt, aber es war kein Taxi zu bekommen. Alles geriet durcheinander. Das Leben mit dem Krebs ist schon schwer, der Kriegs stellt eine weitere Belastung dar. Mein Mann ist vor sechs Jahren verstorben, ich wohnte die vergangenen 18 Monate in Lwiw bei meiner 39jährigen Tochter Iryna. Meine jüngere Tochter Alina ist 29 und lebt seit einigen Jahren in Lübeck. Kurz nach Ausbruch des Kriegs haben beide für mich entschieden, dass ich das Land verlassen muss. Lieber wäre ich geblieben, aber ich habe bereits fünf Operationen hinter mir.
In Deutschland ist die medizinische Versorgung gesichert, aber meine seelischen Schmerzen übertreffen die Körperlichen.
Jeden Tag verfolge ich die Nachrichten und mache mir Sorgen – um Iryna und Lwiw. Es ist sehr schlimm, zu sehen, dass unsere Heimat zerstört wird. In der Ukraine war ich bis zur Rente eine sehr gute Redakteurin, habe in einem Verlag gearbeitet, darauf bin ich sehr stolz. Ich denke, jeder Mensch muss freien Zugang zu unterschiedlichen Medien haben. Nur so können Informationen verglichen werden und man kann sich eine Meinung bilden.
„ Freiheit ist, die eigene Meinung begründen zu können und gleichzeitig andere Meinungen zu respektieren. “
Darüber hinaus bedeutete Freiheit für mich, ein verlässliches Netzwerk aus Freunden, Kollegen, Bekannten und Verwandten zu haben. Allerdings merke ich mit zunehmendem Alter, dass dieses Netzwerk enger wird – umso wichtiger, es zu erhalten. Ich umgebe mich mit verständnisvollen Menschen, denen ich vertrauen kann. Meine gesamte Familie hat jüdische Wurzeln und ich bin Mitglied der jüdischen Gemeinde Kharkiv. Als ich dort lebte, vor Corona und dem Krieg, haben wir uns wöchentlich in der Synagoge getroffen, gemeinsam die Tora gelesen und alle Feiertage gemeinsam verbracht.
In der Tora finde ich eine Wahrheit, die mir hilft, das Leben zu verstehen.
Jetzt haben wir eine Frauengruppe auf WhatsApp zum Austausch über die Inhalte und Weisheiten der Tora. Nur zwei von 25 Frauen meiner Gruppe leben noch Kharkiv, die anderen sind auf der Flucht, der Krieg hat sie in alle Richtungen verstreut… in den Westen der Ukraine, nach Polen, Deutschland, Holland oder Israel. Dennoch halten wir zusammen und unterstützen einander. Am 16. März war Purim, an sich ein fröhliches Fest, das an die Errettung des jüdischen Volkes erinnert. Unser Rabbiner und unsere Rabbinerin haben uns jedoch ganz bewusst anlässlich des Feiertags in dieser schwierigen Zeit zusammengebracht: Wir haben uns online ausgetauscht und über das Fest gesprochen. Wir haben uns gemeinsam gefreut und gemeinsam geweint.
Das Wichtigste, was ich auf meinem schwierigen Weg gelernt habe, ist der Wert gegenseitiger menschlicher Hilfe.
Die Autofahrt von Lemberg zur polnischen Grenze dauerte nur zwei Stunden, dann musste ich in der Fußgängerschlange für zum Übergang elf Stunden anstehen. Mit diesem Ansturm hatte niemand gerechnet, es war eine Katastrophe. Auch mir war im Vorfeld nicht bewusst, dass mich diese Menschenmasse an der Grenze erwarten würde. Viele polnische Volontäre halfen im Dunklen bei minus fünf Grad mit Kleidung und Decken. Es waren so viele kleine Babys da, die geweint und geschrien haben. Die Nerven der Mütter lagen blank und einige konnten ihre Emotionen nicht zurückhalten. Diese Situation war sehr stressig, aber wir hatten alle keine Wahl, als dort zu warten.
Ich sehe die vielen Freiwilligen und die menschliche Großzügigkeit und habe das Vertrauen in die Menschen nicht verloren.
Zwischendurch setzte ich mich auf meinen Koffer vor Müdigkeit. Ich weinte, war so erregt und habe in meiner Verzweiflung geschrien: „Ich kann nicht mehr!“ Ich war am Ende, wenngleich ich wusste, dass hinter mir die Bomben fallen und es kein Zurück gab. Meine Töchter waren die ganze Nacht in Kontakt mit mir über WhatsApp. Iryna schrieb aus Lwiw: „Mama, geh! Du musst gehen. Ich habe alles Menschenmögliche gemacht, damit Du an einen sicheren Ort kommst. Ich bete für Dich!“ Und Alina schrieb aus Lübeck: „Mama, komm! Ich warte auf Dich! Du musst kommen.“ Wenige Meter vor der Grenze bin ich aus Erschöpfung und Stress noch in Ohnmacht gefallen. Ein polnischer Notarzt musste mich abholen und die Helfer gaben mir eine warme Suppe.
„Was kann eine Person einer anderen geben, außer einem Tropfen Wärme? Und was könnte mehr sein als das?”
(zitiert aus Erich Maria Remarque
„Arc de Triomphe“)
Seit dem 1. März 2022 bin ich nun in Lübeck. Ich sehe hier -wie auch in Polen- die vielen freiwilligen Helfer*innen und die Großherzigkeit und ich habe den Glauben in die Menschen nicht verloren. Das Wichtigste, was ich auf meinem schwierigen Weg gelernt habe, ist der Wert der gegenseitigen menschlichen Hilfe.
Interview: Sandy Bossier-Steuerwald/ Fotos ©: Privat