In meiner Vorstellung ist es immer noch Winter in Kiew – als ob die Zeit in der Ukraine stehen geblieben wäre.

In dem Moment, als der Krieg ausbrach, wurde Tania Hubrii (27) klar, wer ein echter Freund ist.

Es ist schwer zu verstehen, dass nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. Ich habe zum Beispiel immer davon geträumt, mal nach Spanien zu gehen – jetzt, wo ich es könnte, möchte ich nur noch zu meiner Großmutter zurück. Ich habe Angst, mich der Realität zu stellen und das ganze Ausmaß des Krieges zu verstehen. Erst wenn ich es mit meinen eigenen Augen sehe, wird es real. Wissen Sie, ich sehe Bilder von Kiew im Sommer, grüne Bäume, aber ich verstehe das nicht – für mich ist dort immer noch Winter, als ob die Zeit in der Ukraine stehen geblieben wäre.

Am 24. Februar 2022 waren draußen keine glücklichen Kinder zu hören.

Am 24. Februar wurde meine Mutter 49 Jahre alt. Ich wollte sie in Vinnitsa besuchen, eine dreistündige Zugfahrt von Kiew entfernt. Ich hatte eine Theaterprobe abgesagt, um mit ihr Geburtstag zu feiern. Ich hatte ein Zugticket und ein Geschenk besorgt – ein I-Phone, was für mich eine kleine Genugtuung ist, weil ich so viel und in Vollzeit arbeite. Also rief ich sie an diesem Morgen an und sagte, anstatt zu gratulieren: “Wach auf, Mama, der Krieg hat begonnen…”

Zunächst hielt ich dennoch an meinem Plan für den Tag fest. Am frühen Morgen ging ich zum Busbahnhof, der sich ganz in der Nähe meiner Wohnung befindet. Der Fahrer sagte: “Ich fahre erst in drei Stunden nach Vinnitsa!”. Also dachte ich, es wäre eine gute Idee, nochmal nach Hause zu gehen und die Wohnung ein wenig zu putzen. Ich konnte nicht wissen, wann ich aufgrund der neuen Umstände zurückkehren würde. Also gab ich dem Busfahrer meine Telefonnummer und ließ mein Gepäck und meinen Laptop bei ihm…

Wissen Sie, Krieg ist der Moment, in dem Regeln nicht mehr gelten.

Als ich wenig später zur Bushaltestelle zurückkehrte, war kein Bus in Sicht. Wahrscheinlich waren die Leute in Panik geraten und hatten den Fahrer überredet, einfach zu fahren. Der Bus war weg und mit ihm mein Gepäck, mein Laptop, alles! Was ich getan habe? Ich kehrte zurück in meine Wohnung und putzte – zum vierten Mal an diesem Morgen. Und das, obwohl ich das Geschirr schon zweimal mit der Hand gespült hatte… Dumm. Ich wollte einfach, dass meine Wohnung sauber ist. Aber es ging nicht ums Putzen – es ging darum, den Verstand nicht zu verlieren. Es ging um die Notwendigkeit, etwas zu tun.

An dem Tag, an dem der Krieg ausbrach, habe ich meine Wohnung viermal geputzt.  
Aber es ging nicht ums Putzen - es ging darum, den Verstand nicht zu verlieren.

Meine Freundin Diana und ich beschlossen, in einem Keller Schutz zu suchen. Wir saßen zwischen Pfützen auf dem Steinboden und redeten und scherzten, um die Situation erträglich zu machen. Es hieß, dass die Russen Kiew in drei Tagen einnehmen würden, darauf haben wir also gewartet. Ich war sehr nervös und konnte überhaupt nicht schlafen. Der Schlafmangel erwies sich als mein größtes Problem. Ich war so müde und habe abwechselnd auf dieses eine Fenster und mein Handy geschaut und gebetet: “Gott, ich weiß, dass es dich gibt. Bitte, ich möchte wirklich am Leben bleiben und meinen Beruf in Zukunft ausüben.”

Ich habe vier Jobs – meine Geschichte steht stellvertretend für alle Frauen, die Vollzeit arbeiten, um bei dem, was sie tun und lieben, erfolgreich zu sein. Ich habe weder Kinder noch Freizeit; ich arbeite Vollzeit. Ich weiß, was ich in den nächsten zwei Jahren beruflich machen will. Ich hatte alles geplant, Kiew war meine Basis, wo ich eine schöne Zwei-Zimmer-Wohnung mietete, die eigentlich zu viel Platz für eine einzelne Person bot. Aber für mich ging es nicht um Geld….

Die Situation – das Warten darauf, dass etwas Schlimmes passiert – hat mich verrückt gemacht.

Im Schutzkeller habe ich versucht, Diana zu überreden, mit mir zu fliehen – ohne Erfolg. Im Moment, in dem ich allein zum Bahnhof ging, war mir bewusst, dass ich meine Freunde, meine Wohnung, mein Leben verließ. Ich hatte nur eine Tasche und nichts außer dem Zugticket zum Haus meiner Mutter. Diesmal hatte ich keinen Plan, ich wusste nur, dass ich den Bahnhof irgendwie erreichen musste. Ich war auf dem Weg, ohne zu wissen, wohin ich wollte, macht das Sinn? Als ich den Bahnhof erreichte, hatte ich keine Wahl – alle Züge fuhren nach Lemberg. Es ging nicht um die Fahrkarte oder Destination, es ging um das reine Überleben.

Den Klang der Sirenen vergisst man nie – denn man erkennt, dass sich nun alles ändert.

In Lemberg traf ich eine Freundin, Marina, mit ihrer Tochter Nastja. Zu dieser Zeit gab es dort keine Bombenangriffe, also beschlossen Marina und ich zu bleiben und als Freiwillige zu helfen. Ältere Menschen und Eltern mit Kindern kamen und warteten in einem Theater, das zu einem Schutzraum umfunktioniert worden war. Draußen war es so kalt, dass die Menschen warme Kleidung brauchten. Auf dem Boden lagen Schlafmatten, und alle warteten auf Busse nach Polen. Wir halfen ihnen beim Einsteigen in die Busse und gingen in den Laden, um Lebensmittel und Wasser für sie zu kaufen. Nach ein paar Tagen hatten wir keine andere Wahl, als selbst Richtung Landesgrenze aufzubrechen. Uns war zu Ohren gekommen, dass die Russen bald auch Lemberg bombardieren würden.

Als freiwillige Helfer Kindern Spielzeug schenkten, begann ich zu weinen.

Am 1. März 2022 überquerten wir die Grenze nach Polen. Als ich sah, wie freiwillige Helfer*innen Kindern Spielzeug schenkten, begann ich zu weinen. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Ich war nie auf Hilfe angewiesen, ich konnte mir immer selbst helfen. Wir wurden in eine große Empfangshalle mit Hunderten von anderen Menschen aus der Ukraine geführt, um uns auszuruhen. Marina und ich saßen zufällig mit einem fremden Mann aus Sansibar zusammen. Wir kamen ins Gespräch; er sei Medizinstudent und war Student an der Universität in der Ukraine….

Plötzlich verstand ich, was wirklich geschah, dass dieser Typ aus Sansibar und ich in der gleichen Situation waren! Verstehen Sie mich nicht falsch, aber bis dahin war Sansibar weit weg und plötzlich war der Mann aus Sansibar wie ich: Als ich ihm gegenüber saß und wir gemeinsam diskutierten, was wir als nächstes tun sollten, verstand ich wirklich, was es bedeutet, ein…ahhh…. Ich hasse dieses Wort…puh, warten Sie… also was es bedeutet, ein Flüchtling zu sein.

Kein Zuhause, keine Chance auf Rückkehr, kein Plan für mein Leben: Nun bin ich ein Flüchtling.


Interview & Foto: Sandy Bossier-Steuerwald

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In my imagination it still is winter in Kyiv – as if time has stopped in Ukraine.

In the moment of the outbreak of war, it became clear to Tania Hubrii (27) who really is a friend.

It’s hard to understand that nothing will ever be the same again. For example, I always dreamed of going to Spain – now I could, but I only wish to return to my grandmother. I am afraid to face reality and understand the full extent of the war. Only when I see it with my own eyes will it become real. You know, I see pictures of Kyiv in summer, the green trees, but I don’t understand it – for me it’s still winter there, as if time has stopped in Ukraine.

On February 24th, no happy children could be heard outside.

On February 24th, my mother turned 49. I was going to visit her in Vinnitsa, a three-hour train ride from Kyiv. I had canceled the rehearsal to celebrate her birthday with her. I had arranged a train ticket and a gift for her – an I-Phone, which is a small satisfaction for me because I work a lot and full time. So that morning I called her and instead of congratulating, I said, “Wake up, Mom, the war has started…”

Still, I stuck to my plan for the day. Early that morning, I went to the bus station, which is very close to my apartment. The driver said, “I’m not leaving for Vinnitsa for another three hours.” So I thought it was a good idea to go home and clean the apartment a little more. I had no way of knowing when I would return because of the new circumstances. So I gave the bus driver my phone number and left my luggage and laptop with him…

You know, war is the moment when rules no longer apply.

When I returned to the bus stop a little later, there was no bus in sight. People had probably panicked and persuaded the bus driver to drive off. The bus was gone and with it my luggage, my laptop, everything! What did I do? I returned and cleaned the apartment – for the fourth time that morning. Even though I had already washed the dishes by hand… twice. Stupid. I just wanted my apartment to be clean. But it wasn’t about cleaning – it was about not losing my mind. It was about the need to do something.

The day the war broke out, I cleaned my apartment four times. 
But it wasn't about cleaning - it was about not losing my mind.

My friend Diana and I decided to take shelter in a basement. We sat between puddles on the stone floor and talked and joked, just to make the situation bearable. It was said that the Russians would take Kiev in three days, so that’s what we were waiting for. I was very nervous and could not sleep at all. The lack of sleep proved to be my biggest problem. I was so tired, and I was alternately looking at this one window and my cell phone, praying: “God, I know you exist. Please, I really want to stay alive and pursue my profession in my future.”

I have four jobs – my story is representative of women who work full time to be successful at what they do and love. I don’t have kids or free time; I work full time. I know what I plan to do professionally in the next two years. I had it all planned out, Kiev was my base, where I rented a nice two-bedroom apartment that was actually too much space for a single person. But for me, it wasn’t about money….

The situation – waiting for something bad to happen – was driving me crazy.

At the shelter, I tried to persuade Diana to flee with me – unsuccessfully. The moment I walked alone to the train station, I was fully aware that I was leaving my friends, my apartment, my life. I had only one bag and nothing but the train ticket to my mother’s house. This time I didn’t have a plan, I just knew that somehow I had to reach the station. I was on my way without knowing where I was going, does that make sense? When I reached the station, I had no choice of destination – all trains were going to Lyiv. It was not a matter of tickets, but of pure survival.

You never forget the sound of sirens – because you understand that everything is changing now.

In Lviv I met a friend, Marina, with her daughter Nastja. There were no bombings there at that time, so Marina and I decided to stay and help as volunteers. Elderly people and people with children came and waited in a theater that had been converted into a shelter. It was so cold outside that people needed warm clothes. There were sleeping mats on the floor and everyone was waiting for buses to Poland. We helped them get on the buses and went to the store to buy food and water for them. After a few days, we had no choice but to leave for the border ourselves. We had heard that the Russians would soon bomb Lyiv as well.

When I saw volunteers giving toys to children, I began to cry.

On March 1st, we crossed the border into Poland. When I saw volunteers giving toys to children, I began to cry. I had never experienced anything like that. I was never in need of help, I could always help myself. We were led into a large reception hall with hundreds of others to rest. Marina and I sat down with a stranger from Zanzibar. We struck up a conversation; he is a medical student and was at university in Ukraine….

Suddenly I understood what was really happening, that this guy from Zanzibar and I were in the same situation. Don’t get me wrong, but until then Zanzibar was far away and suddenly the guy from Zanzibar was like me: As I sat across from him and we discussed together what to do next, I really understood what it means to be a…ahhh…. I hate that word…phew, wait… what it means to be a refugee.

No home or chance to return, no plan for my life means: I’m a refugee.


Interview & Photo: Sandy Bossier-Steuerwald

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