
Dies ist die Geschichte von Sofiia: Mit drei Generationen von Frauen floh ihre Familie im März 2022 aus der Ukraine.
„Wir haben etwas verloren In diesem verrückten Krieg. Wo sind deine Flügel die mir so gut gefallen haben? (…) Und wenn morgen das große Feuer ausbricht und das ganze Gebäude in Flammen aufgeht werden wir ohne die Flügel sterben, die ich einst so mochte." „Wings“ der russischen Rockband Nautilus Pompilius, 1997
Ich habe meine Mutter nur zweimal in meinem Leben weinen sehen: Einmal beim Umzug nach Hostomel 2014, als wir die leere Wohnung betraten und mein Vater sein Lieblingslied „Wings“ von Nautilus Pompilius auflegte, und das zweite Mal 2022, als wir in Berlin ankamen. Es fühlt sich seltsam an, sie weinen zu sehen, weil meine Mutter in jeder Situation sonst immer logisch denkt und ruhig bleibt. Sie ist so schlau, ich bin mental bei weitem nicht so stark und habe einfach nicht die gleichen Fähigkeiten wie sie. Meine Mutter wird immer ein Vorbild für mich sein, aber diese „schwachen“ Momente haben meine Sicht auf das Leben verändert. Ich bin froh, in Sicherheit zu sein, und ich werde annehmen, was das Leben mir bietet (und das ist viel):
Jetzt bin ich erwachsen und werde meinen eigenen Weg finden.
Um die Geschichte meiner Familie zu verstehen, muss man ins Jahr 2014 zurückgehen: Ich bin in der Region Donezk im Osten der Ukraine aufgewachsen, wo meine Eltern ein angenehmes Leben aufgebaut hatten, mit Ersparnissen, einem schönes Zuhause, sogar zwei Autos. Meine Mutter arbeitete als Wirtschaftswissenschaftlerin und mein Vater ist Bergbauingenieur. Mit den fortschreitenden Auseinandersetzungen zwischen der Ukraine und Russland vor acht Jahren mussten meine Eltern in der Region alles aufgeben und nochmal von vorne anfangen. Der Umzug nach Hostomel -nahe Kiew- war hart, aber auch gut, weil meine Eltern verstanden, dass es nichts bringt, immer nur zu sparen, sondern auch auszugehen – in Cafés und Ausstellungen –, zu reisen und das Leben in vollen Zügen zu genießen.
Meine Eltern waren sicher: „In Hostomel werden wir ein neues Leben aufbauen und für immer bleiben.“
Zu Beginn der russischen Invasion 2022 befand ich mich im vergleichsweise sicheren Lemberg. Ich war vor vier Jahren ausgezogen, um Interface Design zu studieren. Meine Familie dagegen wohnte wiegesagt im gefährdeten Hostomel. Die Stadt grenzt unmittelbar an Butcha und diese Region beherbergt einen strategisch wichtigen Flugplatz für die Armee. Dieser wurde am Morgen des 24. Februar 2022 von russischen Fallschirmjägern eingenommen.
Unsere Stadt voller Panzer und Soldaten – es war wie in einem apokalyptischen Film.
Meine Eltern und meine Großmutter lebten in zwei Wohnungen in einem großen Apartmentkomplex in Hostomel. Bei Kriegsbeginn blieben sie zunächst in ihren Wohnungen im zweiten Stock, doch die Wasserversorgung wurde, ebenso wie die WLAN-Verbindung, umgehend unterbrochen. Die Russen -auf der Suche nach ukrainischen Soldaten- brachen in alle Wohnungen ein und schrien: „Alle raus und alle Handys auf den Boden!“ Sie zerstörten die Mobiltelefone, aber meine Mutter behielt heimlich ihr Arbeitstelefon, womit wir uns dann verständigen konnten. Fortan versuchte ich, meinen Eltern zu helfen, indem ich ihnen Nachrichten und Hoffnung schickte. Telefonanrufe waren unmöglich, wir sendeten nur einmal pro Tag Textnachrichten, wegen der schlechten Verbindung und der Notwendigkeit, den Akku zu schonen. So saß meine Mutter täglich im Badezimmer und schrieb Dinge wie: „Wir hören Stimmen, jemand schießt, wir haben Angst, alles brennt, wir wissen nicht, ob die Nachbarn verletzt sind“ …
Diese schreckliche Situation dauerte vielleicht eine Woche, aber für mich fühlte es sich so viel länger an.
In dieser Zeit konnte ich mir nicht erlauben, zu weinen, ich musste einen klaren Kopf behalten. Erst jetzt beschleichen mich negative Gefühle, es ist eine innere Unruhe, ich kann es schwer beschreiben. Am schlimmsten jedoch traf es die Familie des besten Freundes meines Vaters. Er hatte bis dahin auch mit seiner Frau und seiner Tochter Sofiia (ja, sie heißt genauso wie ich) in unserem Gebäudekomplex gelebt. Sie versuchten, Hostomel am 3. März 2022 zu verlassen. Offiziell sollte es einen „grünen Korridor“ geben, aber die Russen hielten sich nicht an die Vereinbarungen und schossen auf Zivilisten. Dabei verlor Sofiia ihren linken Arm.
Und sie verlor ihre Mutter, ihr Vater seine Frau und wir einen Freund. Es ist eine Tragödie.
Unmittelbar nach dieser Tragödie beschlossen auch meine Eltern zu fliehen. Die Wohnungen waren beschädigt, ebenso das Auto meiner Eltern – nirgendwo mehr gab es intakte Fenster. Ohne zu wissen, ob der „grüne Korridor“ ein sicherer Fluchtweg oder eine Falle sein würde, machten sie sich auf den Weg. Sie überredeten meine fast 90-jährige Großmutter, sich in einen Einkaufswagen zu setzen und die Straßen entlang geschoben zu werden. Um sie herum tobte der unberechenbare Krieg. Auf dem sechs Kilometer langen Fußweg hielt plötzlich ein Bus und bot an, meine Mutter und Großmutter mitzunehmen. Auf diese Weise verloren sich meine Eltern aus den Augen, denn mein Vater und Bruder mußten zu Fuß weiter gehen.
Sobald es gelungen war, nach Kiew zu fliehen, wurden sie verpflegt und zum Hauptbahnhof in Kiew gebracht. Von dort aus fuhren kostenlose Evakuierungszüge in den westlichen Teil der Ukraine, einschließlich Lviv. Unser ukrainisches Zugsystem „Ukrazaliznytsya“ war unglaublich hilfreich und hilft unserem Land und den Menschen in dieser schwierigen Zeit weiter. Wieder war ich es, die am Telefon aus der Ferne half, sich zu orientieren und später wieder zu finden. Nach ein paar anstrengenden Tagen waren alle Familienmitglieder bei mir in Lemberg vereint.

Ich weiß nicht, ob das eine glückliche oder eine traurige Geschichte ist: Der Krieg verfolgt meine Familie, gleichzeitig sind wir alle am Leben... Ich denke, es ist definitiv eine gute Geschichte.
Ich bin nicht religiös, ich bin eigentlich Agnostiker, aber eine höhere Macht scheint unserer Familie zu helfen. Davon bin ich überzeugt. Ich halte es wirklich für ein Wunder, dass alle zweifach und unversehrt entkommen konnten – zuerst 2014 aus der Region Donezk und jetzt 2022 aus der Region Kiew. Ich habe verstanden, dass ich mich auf etwas „Größeres“ verlassen muss, das über uns steht, das man vielleicht Schicksal nennen könnte.
Wir sind alle moderne Menschen, wir lesen alle dieselben Bücher. Wie kann so etwas im 21. Jahrhundert passieren?
Von Lemberg aus reisten meine Großmutter, ich und meine Mutter dann ebenfalls mit einem ukrainischen Evakuierungszug kostenlos nach Polen. Nach wie vor sind mein Vater, Bruder sowie mein Freund in der Ukraine, während sich meine Mutter und ich in Berlin aufhalten, während meine Großmutter nach Spanien weitergezogen ist. Sie wohnt derzeit bei meiner Tante –ihrer Tochter–, die seit mehr als zehn Jahren dort lebt. Meine Oma genießt es, mit ihren Verwandten zusammen zu sein und sagt: „Das milde Klima in Spanien erinnert mich an einen Urlaub in Soche/ Russland, als noch junge Frau… ich fühle mich hier wieder jung!“
Sie waren eine wunderbare Familie, warum passiert guten Menschen so etwas Böses?
Die Tragödie mit unseren Freunden hingegen war ein schwerer Schlag für mein Weltbild. Ich verstehe es noch immer nicht. Sie waren weder schlechter noch besser als wir, und ich frage mich immer wieder: Warum ist es ausgerechnet ihnen passiert? Das ist nicht fair. Warum müssen sie so leiden? Das hat niemand verdient. Jetzt sind Sofia und ihr Vater in Italien. Sie feierten kürzlich ihren 14. Geburtstag und sammeln Geld für eine Prothese.
Wenn Sie helfen und Geld für Sofias Prothese spenden möchten, finden Sie hier weitere Informationen !

Interview & Foto oben: © Sandy Bossier-Steuerwald , Fotos unten: © Privat