So sicher die Berge auch schienen, die friedlichen Karpaten hatten eine Kehrseite…

Mariko Becher (34) findet es wichtig, die Gegenwart zu dokumentieren, denn: „Wenn ich meine Gefühle zu Beginn des Krieges mit denen von heute vergleiche, stelle ich fest, dass es einen großen Unterschied gibt: Als er anfing, habe ich viel Yoga gemacht, meditiert und mich diszipliniert – aber schon nach einer Woche war ich deprimiert und nachrichtenabhängig...“

Am Morgen des 24. Februar 2022 erwachte ich im Schlafwagen des Zuges von lauten, verzweifelten Telefonaten im Gang. Ich sagte zu meinem Mann Roman: „Wach auf, der Krieg hat begonnen!“ Vor uns lagen noch drei Stunden Zugfahrt bis zu den Karpaten in der Westukraine. Wir saßen im Zugabteil, schauten aus dem Fenster und ich wünschte, der Zug würde ewig weiterfahren. Ich wußte nicht, was wir als nächstes tun sollten. Dann kam unser Freund Sergiy ins Abteil und riet, an unserem ursprünglichen Ziel festzuhalten, einem Yoga-Retreat in den Bergen. Der Veranstalter des Retreats hatte am Telefon versichert, dass es sich um einen sicheren Ort im Outback handele, mit schönen Holzhütten im Wald, an dem es sicherlich keine Anschläge geben würde.

Die Erkenntnis, dass der Krieg andauern würde, ließ mich verzweifeln.

Ich bin seit zehn Jahren mit Roman verheiratet. Wir haben in Kiew gelebt, meiner Heimatstadt, die nach der Revolution zu einer sehr modernen Stadt geworden ist. Ich habe als Regieassistentin in der Werbe- und Musikvideoproduktion gearbeitet, eine Position, in der man alles und jeden managt. Es macht Spaß, ist aber auch anstrengend, und am Ende des letzten Jahres war ich ziemlich ausgelaugt. Zur gleichen Zeit starben meine Großtante und mein Großonkel, die für mich wie zweite Eltern waren… Ich hatte mein ganzes Leben lang eine sehr enge Beziehung zu ihnen. Sie halfen, mich großzuziehen, da meine Mutter erst 20 war, als sie mich bekam. Im Dezember 2021 erkrankten beide innerhalb einer Woche an Covid und starben am selben Tag, gemeinsam an Heiligabend.

Anfang 2022 beschloss ich, dass ich dringend Ruhe und Urlaub benötigte. Ich buchte einen Flug nach Indien, wo ich schon seit über zehn Jahren hin wollte, um in das „IndaHotel“ meiner ukrainischen Freunde zu fahren. Während einer Meditation am 20. Januar 2022 hatte ich plötzlich diese Vorahnung. Ich spürte tief im Inneren, dass sehr bald etwas Schlimmes passieren würde. Diese Intuition wirkte sich äußerst negativ auf meinen allgemeinen Zustand aus. Zur Ablenkung lud eine Freundin eine indische Künstlerin ein, die mir als Überraschung„Mehndi“ (traditionelle, indische Tätowierung) auf die Hände malte. Nach ein paar gemeinsamen Stunden fühlte ich mich besser, aber wenn ich heute zurückblicke, denke ich, dass ich wirklich eine Vision hatte.

In Indien hatte ich plötzlich eine Vision: Ich spürte, dass bald etwas sehr Schlimmes passieren würde.

Mein Mann Roman – der in Kiew geblieben war – wollte meiner Intuition nicht folgen, als ich ihm am Telefon sagte: „Vielleicht ist es an der Zeit, die Ukraine für einen Monat zu verlassen und ins Ausland zu gehen.“ Wie viele Ukrainer konnte er nicht glauben, dass so ein Wahnsinn wie ein Krieg tatsächlich geschehen konnte: „Komm schon, Mariko. Das ist nicht möglich, wovon redest du?“ Also schrieb ich dieses tiefe Gefühl in mir dem Heimweh, der Sehnsucht nach meinem Mann und dem Wunsch nach Veränderung zu. Wir hatten in den letzten Monaten viel über unser Leben nachgedacht und einige grundlegende Veränderungen in Bezug auf einen Wohn- und Arbeitsort im Ausland in Betracht gezogen…

Eines Tages, als ich in Indien war, erhielt ich einen Anruf von einem Freund. Er lud mich ein, an diesem Yoga-Retreat in den Karpaten im März 2022 teilzunehmen und Fotos von dem Ort und dem Retreat zu machen. Obwohl ich selbst nicht sicher war, ob ich dazu bereit sein würde, bestand ich gegenüber meinem Mann nun darauf: „Ich bin bereits allein nach Indien gereist – dieses Mal will ich, dass du mich begleitest.“ Ich habe ihm gedroht, dass wir einen großen Streit bekommen würden, wenn er nicht mitkommen würde. So kam es, dass wir am 24. Februar 2022 zusammen in dem Zug saßen.

Natürlich haben wir an diesem Morgen im Zugabteil überlegt, das Land sofort zu verlassen. Aber mein Mann Roman hatte keine Covid-Impfung, und auch deshalb waren wir unschlüssig, ob sie ihn überhaupt über die Grenze lassen würden.

Also beschlossen wir, in den Karpaten Schutz zu suchen, ein Fehler, wie ich jetzt denke. Wären wir an jenem ersten Tag des Krieges direkt geflohen, wären wir nicht getrennt worden. Wahrscheinlich hätten sie ihn einfach passieren lassen.

Doch so sicher es auch schien, die friedlichen Karpaten hatten eine Kehrseite.

Stattdessen waren wir also im Yoga-Retreat in den Karpaten. Ich habe den Teilnehmern gesagt, dass wir trotz des Krieges Gewohnheiten brauchen, dass wir weiter üben müssen, und dass es unserem Körper und unserer Psyche helfen wird, gesund zu bleiben. Am Anfang haben wir Yoga gemacht, gefrühstückt, meditiert, gemeinsam zu Mittag gegessen und so weiter, nach einem festen Zeitplan. Wir folgten schockiert den Nachrichten und wähnten uns glücklich, an einem sicheren, schönen Ort zu sein. In der Tat waren die Ukrainer, die in dieser westlichen Region des Landes leben, überhaupt nicht glücklich darüber, dass sich so viele Menschen – vor allem Jungen und Männer – in ihren Teil des Landes zurückzogen. Deshalb haben sie unsere Männer aufgefordert, in die Armee einzutreten und das Land zu verteidigen.

Die Dorfbewohner meinen es sicher nicht böse, sie haben eben eine sehr traditionelle Sicht auf die Dinge, während unser Teil der Ukraine viel moderner ist. Mein Mann ist ein kreativer Kopf, kein Soldat! Und doch fühlte er sich gedrängt und auch irgendwie verpflichtet, in die Armee eingezogen zu werden. Die Ärzte bescheinigten ihm, dass er körperlich und geistig fit war, und innerhalb von vier Tagen erhielt er die schriftliche Einladung zum Wehrdienst. Ich dachte, er hätte den Verstand verloren und flippte völlig aus:

"Was denkst Du Dir dabei? Du bist ein Designer!  
Du kannst unserem Land auf andere Weise helfen!"  
Er stimmte mir unglücklich zu und sagte,  
"Du hast Recht, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist."  

Um uns in Sicherheit zu bringen, mussten wir schnell handeln. Wir schlossen uns mit einer anderen Familie zusammen und fuhren mit zwei Autos zur Grenze in Rumänien. Wir wussten, dass die Chancen gen Null gingen, dass sie uns mit unseren Männern durchlassen würden, aber wir mussten es versuchen. Also teilten wir uns mit sieben Personen auf zwei Autos auf. Es war der erste März 2022, wir warteten elf Stunden am Grenzübergang in den Autos, wir weinten, die Kinder weinten, die Schwiegermutter weinte. Wir konnten einfach nicht begreifen, was in diesem Moment vor sich ging. So viel Angst und Enttäuschung um uns herum.

Um drei Uhr morgens verließen wir Frauen und Kinder die Ukraine, während die Männer umkehren mussten.

Mein Mann ist jetzt in Kiew, sie haben ihn bis heute nicht eingezogen. Er sitzt herum, macht ehrenamtlich Designs und denkt zu viel nach. Ich habe in unserer Beziehung immer viel gemanagt, und vielleicht ist es auch mal gut, dass er jetzt gezwungen ist, mehr Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Aber in solchen festgefahrenen Situationen besteht gleichermaßen die Gefahr, dass man in eine Depression verfällt. Auch ich bin die ganze Zeit traurig. Selbst wenn etwas Gutes passiert, wenn ich nette Leute treffe, wenn ich lache, ist das rein äußerlich. Verstehen Sie? Ich spüre es einfach nicht. Ich kann mich nicht mehr öffnen. Nach einer zehnjährigen Zuckerabstinenz habe ich sogar angefangen, wieder Süßigkeiten zu essen, um Dopamin zu bekommen.

Ich weiß einfach nicht, wie ich glücklich sein soll, wenn in meinem Land Krieg herrscht.


Interview & Portraitfoto: © Sandy Bossier-Steuerwald. Rest Fotos: ©Mariko Becher

Infos: Mariko Bechers Arbeiten und Referenzen finden Sie auf ihrer Website oder ihrer Foto-Website.

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